Europa kann Islam zu Renaissance verhelfen
Gewalt- und Terrorakte von Islamisten verdecken wichtige und positive Strömungen im Islam, die über die europäische Theologie jedoch durchaus zu einer "Renaissance" gelangen könnten: Diese Hoffnung hat der islamische Theologe Erdal Toprakyaran im Interview mit den "Salzburger Nachrichten" (Donnerstag) geäußert. "Man kann die großen Philosophen des Mittelalters wiederentdecken und verstärkt ins Bewusstsein der Muslime rufen. Und man kann diese Traditionen für heute weiterdenken und fruchtbar machen", so der Juniorprofessor für Islamische Geschichte und Gegenwartskultur der Uni Tübingen.
Puristen im Islam propagieren "ein sehr einfaches Weltbild", bei dem scharfe Grenzen zwischen erlaubt und unerlaubt, Muslim und Ungläubiger gezogen würden, erklärte Tporakyaran. Keine derartige Unterscheidung gebe es hingegen bei den Mystikern: "Sie sagen, wer wirklich gläubig oder ungläubig ist, das weiß nur Gott, weil wir nicht in die Herzen der Menschen hineinschauen können." Der Auffassung der Mystiker zufolge müsse die Übertretung einer Regel immer im Ernstfall geprüft und Kontexte bei jeglicher Beurteilung mitbedacht werden. Auch die Beziehung der Geschlechter zueinander unterscheide sich, könne doch in der mystischen Tradition auch eine Frau Meisterin sein und ein Mann von ihr lernen. Toprakyaran: "Das lehnen Puristen völlig ab."
Die gesamte orientalische Kultur der Gastfreundschaft, Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Demut, Bescheidenheit und Ästhetik sei ebenso wie die verbreitete Volksreligiosität vor allem von mystischen Strömungen und deren Sufi-Predigern entscheidend geprägt worden, betonte der Islam-Experte. Diese Geisteshaltung und auch die mittelalterliche philosophische-rationalistische Tradition von Avicenna (980-1037) oder Averroës (1126-1198) würden heute in der islamischen Welt aber untergehen: Die politisch-ideologischen Muslime seien besser organisiert und nutzten das Internet stärker.
Offenbar sei die Politik nicht zum Schutz der Mystiker bereit und habe sich dem ideologisch-puristischen Islam ergeben, so Toprakyaran. Viele muslimische Länder wie etwa Saudi-Arabien würden daher vor allem auf Rechtgläubigkeit pochen, darüber hinaus hätten gewaltbereite Islamisten in Ägypten, Syrien oder Mali Heiligengräber zerstört, die "immer zum mystischen Volks-Islam" gehört hätten. Vorwürfe fehlender Rechtgläubigkeit und sogar Todesstrafen deshalb habe es gegen die Mystik schon in frühen Jahrhunderten des Islams gegeben, "aber die Mystiker haben sich nicht beeindrucken lassen, sie waren immer zahlreich und stark", betonte der Forscher.
Der europäischen Wissenschaft sprach Toprakyaran eine besondere Rolle für den Islam zu: Speziell in Deutschland und Österreich müsse sich die islamische Theologie am "sehr hohen Niveau an christlicher Theologie, an säkularer Orient- und Islamwissenschaft und an Religionswissenschaft" messen. Es herrsche hierzulande eine große Freiheit - die das "Einzigartige" an der europäischen Wissenschaft sei -, auch in der islamischen Theologie. Sei diese Freiheit auch immer wieder in der in der islamischen Geschichte möglich gewesen, existiere sie dennoch in muslimischen Ländern momentan kaum.
Quelle: kathpress