Flüchtlinge sind große Chance für die Kirche
Die Flüchtlingskrise ist in den Augen des Wiener Pastoraltheologen Paul M. Zulehner eine große Chance für die Kirche: Wie ein Stein, der - in ein stehendes Gewässer geworfen - Wellen schlägt und somit Sauerstoff zuführt, so könnten die Flüchtlinge Segen bringen, indem sie das "Wellness-Christentum" der im befriedeten Reichtum "bürgerlich" gewordenen Gemeinden störten. Diesem Vorgang gewinne er viel Positives ab, erklärte der Theologe in einem Interview mit dem Norddeutschen Rundfunk (NDR).
Völlig neue Wege zu jungen Altersschichten würden sich durch die derzeitige Situation darbieten: "Man hat Jugendkatechismen gedruckt und hat nichts damit erreicht. Und nun plötzlich fordert die Kirche die jungen Menschen heraus zu sagen: Macht etwas, im Sinn des Evangeliums", so der Wiener Pastoraltheologe. Er sehe es als "einzig richtigen Weg", junge Menschen zunächst "das Evangelium tun zu lassen, und wenn sie es getan haben, dann kann man mit ihnen auch nachdenken, was sie schon gemacht haben".
Das Evangelium ermutige, "katholisch im Sinne des Universellen" zu werden, erklärte Zulehner, denn "wenn nur ein Gott ist, ist jeder in der einen Menschheit einer von uns". Besonders die Stelle im Matthäus-Evangelium "Ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen" sei hier wegweisend. Handfeste Nächstenliebe gegenüber Bedrängten sei folglich "in der Sache das Christliche", egal wer sie vollziehe: "Das heißt, wenn das ein Atheist tut, ist das in der Sache genauso christlich wie wenn das ein gläubiger Christ tut."
Gefahr der "Provinzialisierung"
Das Christentum laufe jedoch Gefahr, sich aus der Debatte um den Begriff der Nächstenliebe zurückzuziehen und dessen "Provinzialisierung" zu erlauben, warnte der Theologe; insbesondere sei dies dann der Fall, wenn Nächstenliebe nur noch dem Nächsten, nicht aber auch dem Fernsten gelte. Dabei gebiete zwar die Vernunft, auf Ordnung und eigene Möglichkeiten zu sehen und darauf zu achten, "nicht so überrollt zu werden, sodass wir nicht wissen, wer ins Land kommt". Solidarität für Menschen in Lebensgefahr sei für eines der reichsten Länder jedoch "Pflicht".
Angesichts der zahlreichen Ängste vor Flüchtlingen, die derzeit in der Politik wie auch in manchen Kirchenkreisen die Runde machten, empfahl Zulehner die persönliche Begegnung mit Betroffenen: Wenn Feste gemeinsam gefeiert und Lebensgeschichten auf offene Ohren fänden, würde dies zur "Heilung des Herzens" beitragen und dazu, dass der "Mantel der Angst", der das Herz umhülle, durchlässig werde. Die Kirche könne etwa bei Pfarrfesten reichlich Möglichkeiten zu Begegnung schaffen, während moralische Appelle der Bischofskonferenz allein hingegen kaum Wirkung zeigten.
Zulehner verglich die Kirche zudem mit einem Schiff, das lange Jahre auf "Trockendock" gelegen habe. Sie sei nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65) "nach innen implodiert", habe selbstzufrieden nur das eigene Heil verfolgt und "fast lauter kircheninterne Probleme" wie Scheidung, Wiederheirat und Zölibat diskutiert. Derartige Themen sollten unter Papst Franziskus rasch erledigt werden, um frei zu sein für den Einsatz aller Ressourcen nach außen, betonte der Theologe. Zielrichtung sei, wie vom Pontifex gefordert, das Leben und dessen Peripherien; schließlich sei doch das Auslaufen aufs Meer der eigentliche Sinn jedes Schiffes.
Quelle: kathpress