"Neu über Sendung & Identität des Priesters nachdenken"
Herr Erzbischof Wong, die Klerus-Kongregation arbeitet derzeit an einer neuen Ratio Fundamentalis: Welche Entwicklungen der vergangenen Jahre haben dies notwendig gemacht?
Man muss sich der Tatsache bewusst sein, dass die Welt, in die die Kirche hineingestellt ist und in der die Priester ihre Sendung leben, einer ständigen Dynamik unterliegt. Es verändern sich die Bedürfnisse, die Fragen, die Herausforderungen der Menschen. All das betrifft die Verkündigung des christlichen Glaubens. Es gab viele Veränderungen in den letzten Jahren, sei es im Hinblick auf den kulturellen Kontext, sei es im Hinblick auf die Kirche selbst. Man denke nur an die Pfarrei, an die Methoden und die Sprache der Evangelisierung, an die pastorale Organisation, etc. Vor diesem Hintergrund ist zu bedenken, dass die letzte Version der Ratio Fundamentalis aus dem Jahre 1985 stammt, die den Text von 1970 aktualisiert. Zwischenzeitlich gab es verschiedene Vertiefungen und neue Erfahrungen auf dem Gebiet der Bildung, die wir kritisch sammeln und neu bearbeiten wollen, indem wir versuchen, kreativ über die Identität und die Sendung des Priesters nachzudenken.
Die Priesterausbildung ist stark von nationalen, manchmal auch kulturellen Eigenheiten geprägt. Was gilt es im Blick auf diese Vielfalt zu beachten in einer neuen Ratio Fundamentalis? Wie kann die Gratwanderung zwischen verbindlichen gemeinsamen Standards und ortskirchlichen Freiheiten gelingen?
Es kann schwierig sein, sich einen gerechten Ausgleich zwischen den allgemeinen und den lokalen Erfordernissen vorzustellen. Dieser ist jedoch nicht die Frucht der Strategie eines Politikers oder Managers, weil die Kirche, obwohl sie in Einrichtungen und menschlichen und geschichtlichen Formen in Erscheinung tritt, ein Geheimnis geistlicher Art ist. Sie ist ein Leib mit vielen Gliedern. Jedes Glied handelt unter der Führung des Geistes Gottes in Gemeinschaft mit allen. Daher bietet die Ratio Fundamentalis einen großen inhaltlichen Horizont für die Priesterausbildung, eine allgemeine Vision, die Orientierungen und Normen enthält, die als Herzstück des Weges und daher als unverzichtbare Schritte betrachtet werden. Die konkrete Umsetzung der Vorgaben und die Besonderheiten, die von der Kultur des Ortes und dem Leben der lokalen Kirchen abhängen, bleiben dem Urteil der Hirten einer jeden Nation überlassen. Es geht um eine Handlung und um einen Ausdruck kirchlicher Kollegialität, die die Verschiedenheit in der Gemeinschaft harmonisiert.
Wird es verbindliche (Qualitäts-)Kriterien geben, die die Erfahrung der vergangenen Jahre etwa im Blick auf Missbrauchsprävention aufgreifen?
Wir werden im Text auf das schwerwiegende Problem des Missbrauchs hinweisen, doch hat die Ratio hauptsächlich die Prävention im Blick; das heißt, wenn ein Priester sich des furchtbaren Deliktes der Gewalt an Minderjährigen schuldig macht oder in andere Formen unmoralischen Verhaltens verfällt, ist es klar, dass es an menschlicher Reife mangelt und dass sehr oft im Laufe der Zeit Probleme aufgetaucht sind, die nicht in der erforderlichen Weise angegangen worden sind. Es bedarf daher großer Anstrengungen, um in den Priesterkandidaten das Wachstum und die umfassende Entwicklung der Person durch eine Zusammenarbeit zwischen den Ausbildern und den Seminaristen zu fördern, die den künftigen Priester dazu anleitet, eine stabile psychische Reife und allgemein eine gefestigte und ausgeglichene Persönlichkeit zu entwickeln. Diese muss ein fundamentales Kriterium für die Prüfung der Berufung sein.
Die Sorge um den Rückgang an Berufungen verbindet viele Ortskirchen gerade in Europa. Wird die Ratio Fundamentalis dieses Problem aufgreifen und konkrete Vorschläge zur Förderung der Berufungen machen?
Ein grundlegendes und normatives Dokument der Gesamtkirche ist wenig geeignet, vertieft auf soziologische Aspekte einzugehen, wie jene, die die Zahl der Priester betreffen. Die Ratio ruft in Erinnerung, dass die Sorge und die Förderung der Priesterberufungen Aufgabe der ganzen Kirche ist und ermutigt – gerade um ihren gesamtkirchlichen Charakter zu wahren – die Teilkirchen, insbesondere die Zentren für die Berufungs- und Jugendpastoral, kreative und ansprechende Formen zu finden, das Evangelium zu verkünden und den Jugendlichen bei der Findung ihrer spezifischen Berufung zu helfen. Eine wirksame Berufungspastoral hängt allerdings von einem beispielhaften Leben ab, das die Priester den Jugendlichen vorleben, während sie mit ihnen gehen und ihre Wege begleiten: tatsächlich verweist ja ein Zeuge gerade durch sein Leben auf die Schönheit des Evangeliums. Es bedarf sicher einer großen Anstrengung. Der Rückgang der priesterlichen Berufungen tut dem Volk Gottes nicht gut, in Anbetracht der Tatsache dass im Leben der Kirche und in spezieller Weise in den liturgischen Feiern der Priester eine spezifische Bedeutung und eine unersetzbare Rolle hat.
Inwieweit bringt sich Papst Franziskus selbst in die Entwicklung der Ratio fundamentalis ein?
Von Beginn seines Pontifikates an hat Papst Franziskus eine große Aufmerksamkeit für die Priester und für deren Ausbildung gezeigt. Es gibt viele Ansprachen an sie, durch die er daran erinnert, ein ganzes Leben lang „missionarische Jünger“ zu sein, die der ständigen Formung bedürfen. Er legt ihnen ans Herz, die Freude über die Salbung, die sie zum unentgeltlichen Dienst am Volk Gottes verfügbar macht, nicht zu verlieren. Hirten mit der Leidenschaft und Barmherzigkeit des Herzens Jesu formen: das ist die Dringlichkeit, die der Heilige Vater bei verschiedenen Begegnungen mit der Kongregation für den Klerus unterstrichen hat. Doch umfasst die Ratio Fundamentalis das ganze Lehramt der Kirche der letzten Jahrzehnte. Sie macht sich die Vision der Kirche des Zweiten Vatikanischen Konzils zu eigen und vertieft die vielen wichtigen Themen des Heiligen Johannes Pauls II. – man denke nur an Pastores dabo vobis – und Benedikts XVI. Dieses Erbe stellt einen wertvollen Schatz dar, aus dem, um das Evangelium zu zitieren, die Ausbilder „Altes und Neues“ hervorholen können, um ihren Dienst an der Kirche und an den Berufungen bestmöglich auszuüben.
Das Interview führte Henning Klingen
erschienen in "miteinander"