Konkrete Barmherzigkeit schafft mehr Gerechtigkeit
Wie verhalten sich Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zueinander? Bleibt ein unauflösbarer Rest zwischen beiden, und was hat das mit dem päpstlichen Familiendokument "Amoris laetitia" und dem österreichischen Bildungssystem zu tun? Diesen weiten Bogen spannten der Wiener Moraltheologe, Mediziner und Bioethiker Matthias Beck und der ehemalige Wiener Stadtschulratspräsident Kurt Scholz in einer vom Kirchenjuristen Ernst Pucher moderierten Diskussion am Freitagabend in der Wiener Hofburgkapelle. Einig waren sind die Diskutanten darin, dass im Christentum mit "Barmherzigkeit" keine abstrakte Sentimentalität, sondern vielmehr konkretes Handeln gemeint ist. Ausdruck dessen seien die jeweils sieben leiblichen und geistlichen "Werke der Barmherzigkeit", zu denen Christen gehalten sind.
Barmherzigkeit betrifft aber nicht nur den Umgang der Menschen untereinander, er muss sich auch in der kirchlichen Morallehre und ihrer konkreten Anwendungen erweisen. Auf diesen Punkt insistierte der Moraltheologe Beck, der im jüngsten Papstdokument zu Ehe und Familie eine "Wiederentdeckung der Epikie" ortete: Es sei falsch, wenn man befürchten müsse, dass ein Mehr an Barmherzigkeit in moralischen Fragen zu einer Auflösung von Normen führen könnte, erklärte Beck. Das päpstliche Plädoyer für mehr Barmherzigkeit in Fragen von Ehe und Familie zeige sich in der Ermutigung zur Einzelfallentscheidung, die auf die jeweiligen Umstände des Menschen eingehe. Anders gesagt: Konkrete Barmherzigkeit schafft eine höhere Gerechtigkeit. Denn gleichzeitig mit der Aufwertung der konkret angewendeten Barmherzigkeit werde auch die Verantwortung des einzelnen gestärkt, so Beck bei der Diskussionsveranstaltung im Rahmen der "Langen Nacht der Kirchen".
Bildungsgerechtigkeit und Ethikunterricht
"Die Unwissenden lehren" - dieses vom Moderator genannte geistliche Werk der Barmherzigkeit führte zu einem unvermuteten Exkurs über das österreichische Bildungssystem im allgemeinen und den Ethikunterricht im konkreten: "Gerechtigkeit ist und bleibt eine Kernfrage des Bildungssystems", konstatierte Scholz, ohne eine "Patentlösung" dafür zu haben. "Eigentlich müsste eine Bildungslaufbahn allein von der Begabung und Leistungsbereitschaft eines Kindes abhängen." Weil aber tatsächlich der jeweilige soziale Hintergrund über den individullen Bildungsverlauf entscheide, gehe es bei einem Bildungssystem immer auch um mehr Gerechtigkeit, so Scholz.
Für den Theologen und Mediziner Beck bedeutete die Forderung, Unwissende zu lehren, auch einen Anspruch an die Religionen selbst: "Gerade das Christentum hat als Logos-Religion die Aufgabe, den Glauben zu argumentieren", so Beck. Dies müsste aber auch Muslimen, anderen Gläubigen und jenen zugemutet werden, die nicht im religiösen Sinn glauben.
Vor diesem Hintergrund sei es fragwürdig, dass man sich in Österreich einfach von Religion als Schulfach abmelden könne. Es brauche so wie in Deutschland neben dem Religionsunterricht für jene, die nicht daran teilnehmen, einen "Ethikunterricht mit einer interreligiösen Dimension", forderte der Universitätslehrer in Richtung Scholz. Dieser beipflichtete bei. Als Stadtschulrat sei es ihm, Scholz, gelungen, erstmals in Wien den Ethikunterricht als verpflichtenden Ersatz für den Religionsunterricht als Schulversuch einzuführen. Mehr sei leider nicht daraus geworden, weil die einen darin eine "Fluchtmöglichkeit vor dem Religionsunterreicht" sahen und die anderen gegen den "Zwang" zu einem Ersatzunterricht waren. Und deswegen habe man bis heute nichts daran geändert. Dies sei schon deswegen bedauerlich, denn: "Fast alles ist besser als eine Freistunde außerhalb des Unterrichts zu verbringen", so Scholz, der gleichzeitig dem Religionsunterricht Rosen streute: "Religionslehrer schaffen ein pädagogisches Wunder, das sich täglich ereignet, weil es nicht leicht ist, ein Fach ohne Notendruck zu unterrichten."
Quelle: kathpress