Zulehner warnt ÖVP vor "Politik der Orbanisierung"
Vor einer auf Abschottung ausgerichteten "Politik der Orbanisierung" hat der Wiener Theologe und Werteforscher Paul M. Zulehner die ÖVP und die österreichische Politik insgesamt gewarnt. "Wer Festungen baut, betreibt eine rückwärtsgewandte Politik des unerklärten Kriegs gegen die Armgehaltenen der Welt", sagte Zulehner am Dienstag in seinem Vortrag bei den 20. Reichersberger Pfingstgesprächen im gleichnamigen Chorherrenstift (OÖ.). Den anwesenden Vertretern der "zumindest von den Wurzeln her christlichen Partei" ÖVP erklärte er, mit einer angstgetriebenen Politik würde das Christliche im ehedem christlichen Abendland verschwinden. Als mögliche Alternative nannte Zulehner eine "Politik des Vertrauens", die konsequent friedensfördend wirkt, globales Unrecht bekämpft und Bildung vorantreibt.
Die traditionsreichen Pfingstgespräche - veranstaltet von der Volkspartei in Oberösterreich - waren unter dem Titel "Schutz um jeden Preis?" diesmal dem Spannungsfeld "Freiheit versus Sicherheit" gewidmet. Am Montag und Dienstagvormittag referierten außer Paul Zulehner u.a. der Linzer Bischof Manfred Scheuer, Landeshauptmann Josef Pühringer und sein Stellvertreter Thomas Stelzer, die deutsche Ex-Politikerin (Grüne und Piratenpartei) und Unternehmensberaterin Anke Domscheit-Berg sowie Bernhard Treibenreif, Chef der Polizei-Spezialeinheit Cobra.
Der Wiener Theologe verwies in seinem Referat auf Wertestudien in Europa und Österreich, die den Wunsch nach Frieden, Gesundheit, aber auch Freiheit und "bergende Heimat" ganz oben in der Werteskala ansiedeln. Der Mensch brauche immer beides zugleich, so Zulehner: "Stabilität und Mobilität, wurzeln und wachsen, Schutz und Freiheit". Schutz ohne Freiheit mindere ebenso die Lebensqualität wie Freiheit ohne Schutz.
Geschichte Europas: Ringen um Freiheit
Europas neuzeitliche Geschichte sei eine Geschichte des Ringens um bürgerliche Freiheiten, erinnerte der emeritierte Wiener Pastoraltheologe an die englische "Bill of Rights" von 1689, an die 1789 mit der Französische Revolution propagierten demokratischen Grundwerte Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und an die samtene Revolution wieder exakt ein Jahrhundert später: Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem bejubelten Zerschneiden von Grenzzäunen sei ganz Europa ein Kontinent der Freiheit geworden. Die "Meisterleistung Europas" besteht nach den Worten Zulehners in dem in vielen Ländern etablierten Sozialstaat, der Schutz vor Bedrohungen durch Krankheit und Unfall, Arbeitplatzverlust oder Alter biete. Das Leid der beiden Weltkriege hätte zudem die Einsicht als Menschenrecht in die europäischen Verfassungen eingeschrieben, dass auch jenen Schutz gebühre, die in ihrem Land Opfer von Unrecht, Verfolgung und Gewalt werden. "Es ist bedrängend, dass dieses Grundrecht auf Asyl zunehmend ausgehöhlt wird", so Zulehner.
In Europa greife immer mehr eine "Politik der Orbanisierung" um sich. Ihre Kennzeichen: "angstgetriebene abschottende Renationalisierung und Enteuropäisierung". Wer jedoch primär in den Kategorien der Abwehr denke, "macht statt zukunftsfähiger Friedenspolitik kurzatmige Verteidigungspolitik", gab Zulehner zu bedenken. "Gegen die Hoffnungslosigkeit der Armut hilft nicht Militär, sondern nur Gerechtigkeit." Der Orbanismus sei dabei, "Europa und mit ihm das Christliche im Abendland zu zerstören". Dass dieser Kurs von österreichischen Politikern immer mehr Applaus erhalte, nannte Zulehner "tragisch".
Einen solchen Weg "in die politische Sackgasse" umschrieb der Theologe mit folgendem Vergleich: "Wer meint, man könne in Österreich inmitten einer ungerechten und deshalb friedfernen Welt in Wohlstand und Frieden geschützt leben, gleicht einem Arzt, der gegen einen Herzinfarkt Schmerzmittel verschreibt, damit der Patient seinen warnenden Schmerz nicht mehr spürt."
"Heute hilft kein Stammesdenken mehr"
In seiner Ökologieenzyklika "Laudato si" habe Papst Franziskus überzeugend dargelegt, dass heute von einer unumkehrbaren Globalisierung auszugehen ist und es nur einen "Oikos, ein Welthaus für alles" gibt, was lebt. Auch der ökologische Supergau in Fukushima, der ökonomische Kollaps der Lehman Brothers oder der grenzüberschreitend agierende Terrorismus zeigen laut Zulehner: Heute helfe "kein Stammesdenken mehr, keine Stammesethik, welche die Nächstenliebe auf die eigene Ethnie reduziert". Die Frage laute längst nicht mehr: "Wer wird mir zum Nächsten, sondern wem will ich Nächster sein?" Alles, was heute in der Welt geschieht, betreffe uns unausweichlich: Der Nachbar von nebenan gehe genauso an wie Aylan Kurdi, der auf der Flucht von der Türkei nach Griechenland mit seinem Bruder und seiner Mutter ertrank.
Zulehners Appell: Eine solche Zeit braucht "Staatsmänner" oder "Staatsfrauen" wie Angela Merkel, die eine standfeste Politik nicht nur mit kurzsichtigem Blick auf das Wohl der eigenen Partei bei der nächsten Wahl gestalten. Ein "Wir zuerst" sei obsolet; nur noch ein "Wir alle zusammen" sei zukunftsfähig. Angesichts des "globalen Marsches" von geschätzten 60 Millionen weltweiten Flüchtlingen nicht nur wegen Kriegen, sondern auch wegen einer mit Armut einhergehenden Hoffnungslosigkeit und zunehmend auch wegen Umweltkatastrophen sei dringend eine Weltsozialpolitik und als Einübung in diese eine verstärkte europäische Solidarpolitik notwendig. Auch innereuropäisch gebe es auf Grund des enormen Sozialgefälles viele Menschen auf "Überlebenswanderschaft".
Die heutige "Grundfärbung unserer Kultur durch Angst" hat - wie Zulehner ausführte - zur Folge, "dass Regierende von der Angst gepeinigt werden, dass eine engagierte Politik des Vertrauens, wie sie etwa die Pastorentochter Angela Merkel wagt, immer weniger Unterstützung im Wahlvolk findet". Wer jedoch seine Politik der Angst der der Wähler anpasse, verkleinere die Angst der Wählenden nicht, sondern vergrößere sie im Gegenteil rasant. Wie der Werteforscher aus seiner eigenen Onlinestudie zum Flüchtlingsthema entnahm, wirke sich die "angstgetränkte Botschaft der Zäune" wie folgt aus: Mit den Flüchtlingen kämen Terroristen ins Land; junge Männer bedrohten "unsere Frauen"; in Supermärkten werde gestohlen, der überlastete Sozialstaat ausgenützt; Muslime würden das kinderarme christliche Abendland "niedergebären", um die Scharia einzuführen. Zu Stillung dieser Angst wäre es vermeintlich am besten, es käme kein einziger Flüchtling mehr ins Land. "In Österreich führte das zur Wende der Politik vom 'Merkeln' zum 'Orbanisieren'", bedauerte Zulehner.
"Politik des Vertrauens" als Alternative
Die von Zulehner empfohlene "Politik des Vertrauens" als Alternative dazu arbeite an der Eindämmung der vielfältigen Ursachen der Flucht, mache engagiert Friedenspolitik im Nahen Osten und in den Krisengebieten Afrikas, "stoppt konsequent die Lieferung aller (auch Steyrischer) Waffen in die Kriegsgebiete", schmiede an einem Marshall-Plan für Syrien und setze auf breite Bildung für Zugewanderte und Einheimische.
Für alle diese Aufgaben brauche es - so Zulehner - in den politischen Parteien, die sich der Zukunft öffnen, die besten Köpfe. Nötig sei eine klare politische Vision über die Frage, "in welcher Welt wir leben wollen". Außenpolitik werde dann Teil nicht nur einer europäischen Innenpolitik, sondern einer "Weltinnenpolitik". Und für eine solche Politik wäre das alte Prinzip der Römer, "Si vis pacem, para bellum" (Wenn du Frieden willst, rüste für den Krieg") obsolet; sie würde nicht gegen Schutzsuchende militarisieren, NATO-Stacheldrahtzäune bauen und Blendgranaten und Tränengas einsetzen. Vielmehr würde gelten: "Si vis pacem, para iustitiam" (Wenn du Frieden willst, schaffe Gerechtigkeit). Zulehner erinnerte an den Dominikaner Jean Baptist Lacordaire, der Mitte des 19. Jahrhunderts von der Kanzel von Notre Dame in Paris verkündet hatte: "Man muss der Freiheit immer Gerechtigkeit abringen."
An sein Publikum in Reichersberg wandte sich Zulehner mit den Worten: "Es wäre ein pfingstliches Wunder, wenn Sie sich - geschätzte Damen und Herren - dank meiner politischen Meditation gewinnen ließen, von einer sich abschließenden Politik der Angst in eine geordnet offene Politik des Vertrauens zu übersiedeln." (Infos: www.pfingstgespräche.at)
Quelle: kathpress