Sozialenzykliken immer noch "faszinierend aktuell"
Wenn Papst Leo XIII. in seiner bereits vor 125 Jahren erschienenen Sozialenzyklika "Rerum novarum" beklagt, dass "das Kapital...in den Händen einer geringen Zahl angehäuft (ist), während die große Menge verarmt", könnte dies "aktueller nicht sein". Die Wiener Sozialethikerin Ingeborg Gabriel nannte es in einem "Kathpress"-Interview anlässlich der Sozialenzyklika-Jubiläen (100 Jahre nach "Rerum novarum" veröffentlichte Johannes Paul II. "Centesimus annus") "faszinierend, dass ein aus der mittelalterlich-thomistischen Ethik entwickeltes Denken ideologiekritisch so aktuell sein kann".
Auch die beiden anderen kirchlichen Fachleute - Paloma Fernandez de la Hoz von der Katholischen Sozialakademie (ksoe) und der Vorsitzende der "Katholischen Arbeitnehmer/innen Bewegung" (KABÖ), Philipp Kuhlmann, betonten gegenüber "Kathpress" die bleibende Relevanz von "Rerum novarum" und "Centesimus annus".
Für die an der Universität Wien lehrende Ingeborg Gabriel hat schon der damals 81-jährige Leo XIII. wesentliche Punkte benannt: die Verpflichtung der Politik auf das Gemeinwohl und Schranken gegenüber einem "Laissez-faire-Kapitalismus", der Schutz der Marginalisierten und Armen durch den Staat - vor allem durch eine effektive Sozialgesetzgebung und die Notwendigkeit eines starken sozialen Fundaments an Solidarität und Gerechtigkeit, das allein den sozialen Zusammenhalt gewährleisten kann.
Die heute viel diskutierten Thesen von Thomas Piketty oder Joseph Stiglitz über die bedrohlich wachsende Ungleichheit in einer rein liberalen Wirtschaft finden sich laut Gabriel bereits in "Rerum novarum". Noch schärfer habe Pius XI. in "Quadragesimo anno" (1931) unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise die negativen Auswirkungen eines schrankenlosen Wettbewerbs gegeißelt und die Tendenz der Finanzwirtschaft aufgezeigt, die Realwirtschaft "auszusaugen" statt sie zu fördern. Gabriel: "All diese Fragen beschäftigten uns und die Wirtschaftswissenschaften heute weiterhin, weil sie systemimmanent sind."
"Was sind wir in Kauf zu nehmen bereit?"
"Soziale Fragen, die nach wie vor brisant sind", ortet auch Fernandez de la Hoz, Sozialhistorikerin in der ksoe. Leo XIII. habe erkannt, dass die technische Entwicklung zur Zeit der Zweiten Industriellen Revolution mit hohem menschlichem Leid einherging. "Rerum novarum" habe grundlegende Rechte der Arbeiter wie jenes auf gerechte Entlohnung und selbstständige Organisation in Erinnerung gerufen. Der Staat solle Mediationsinstanz zwischen Arbeit und Kapital und Garant der Rechte aller sein. Die Enzyklika werfe die hochaktuelle Frage nach dem Leid anderer auf, "das Menschen in Kauf zu nehmen bereit sind, um den eigenen Wohlstand aufrechtzuerhalten", wie Fernandez de la Hoz hinwies. "Es ist die Frage danach, was wir unter Fortschritt verstehen."
Johannes Paul II. habe in "Centesimus annus" 100 Jahre später den Grund für das Versagen des Kommunismus in der Verletzung der Rechte der Arbeiter gesehen und damit ein System verurteilt, das sich selbst "totverraten" habe. "Ist dies nicht aktuell für die EU-Länder?", fragte die ksoe-Expertin. Zugleich habe der Papst aus Polen keineswegs die Marktwirtschaft idealisiert und "die Entwicklung - aller Menschen! - als neuen Namen des Friedens" genannt.
Erfahrungsschatz und Grundsätze
Die von "Rerum novarum" ausgehende Soziallehre der Kirche biete mit ihrer Berücksichtigung von Gemeinwohl und Solidarität eine notwendige Korrektur zu anderen Ideologien und wurde um den Gedanken der Nachhaltigkeit ergänzt, würdigte auch KAB-Vorsitzender Kuhlmann den in den päpstlichen Sozialenzykliken gebündelten "Erfahrungsschatz, dessen Grundsätze allgemeine Gültigkeit haben". Der Bogen spanne sich hier bis zu Papst Franziskus: "Arbeit und Wirtschaft, Ökologie und Leben können nicht getrennt gedacht werden."
Die Katholische Arbeitnehmerbewegung sehe diesen Vorgaben folgend ihre Aufgabe auch darin, alternative Ansätze wie z.B. lokale Initiativen einer solidarischen Ökonomie zu unterstützen. Kuhlmann erinnerte zugleich an eine "sehr alte Alternative", die in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden sollte: Das Leben in Ordensgemeinschaften zeige seit bald zwei Jahrtausenden, "dass eine anderes Leben, in Gemeinschaft, fernab von Marktlogik, möglich und erfüllend sein kann".
Kirche hat "keinen Zauberstab"
Im Blick auf gegenwärtige wirtschafts- und geopolitische Missstände und eine mögliche positive Einflussnahme der katholischen Kirche gaben sich die drei befragten Fachleute illusionslos: Ingeborg Gabriel wertet es als negative Seite der Globalisierung, dass sozialstaatliche und ökologische Standards "massiv unter Druck gekommen" seien. International verbindliche Regelungen seien bei weltweit 196 Staaten extrem schwierig und würden durch Lobbying finanzstarker Konzerne torpediert. Die katholische Sozialethik fordere daher seit "Pacem in Terris" (Johannes XXIII., 1963) eine "Weltautorität" zur Verwirklichung eines "Weltgemeinwohls", erinnerte Gabriel: "Wir sind bisher damit viel zu wenig weit gekommen."
"Die katholische Kirche verfügt zweifellos nicht über einen Zauberstab", um komplexe Prozesse wie den vorherrschenden "Turbokapitalismus mit seinem "technokratischen Paradigma" zu steuern oder gar abzubauen, merkte auch Paloma Fernandez de la Hoz an. Die Kirche führe unter Papst Franziskus aber vor Augen, dass es bei der Suche nach Alternativen zwei unentbehrliche Bewegungen gibt: die Bewegung "von unten nach oben", die soziale Fragen aus der Perspektive der Armen betrachtet; und die Bewegung "von innen nach außen", die nachhaltige Veränderung der Gesellschaft mit jener "in uns selbst" verknüpft.
Philipp Kuhlmann äußerte Ärger darüber, dass heute Politiker - und auch "christlich-soziale" - Zäune statt Brücken bauen und Politik für Reiche machen würden. Dies sei ein "offensichtlicher Bruch mit den christlichen Werten". Der Sozialstaat als wesentliche Gegenmaßnahme, dass wenige immer reicher und viele immer ärmer werden, sei "ständigen Angriffen ausgesetzt" wie jüngst beim Thema Mindestsicherung. "Arme und Arbeitslose werden schikaniert und kontrolliert während Reiche ihr Geld verschieben können, Steuern 'sparen' und dabei unbehelligt bleiben", empörte sich Kuhlmann. Nach seinen Worten ist der erste Schritt zu einem selbstverantworteten, würdigen Leben für alle Menschen ein egalitärer Zugang zu Chancen in Bereichen wie Bildung, Arbeit oder soziale Absicherung.
Quelle: kathpress