Sozialethiker warnt vor Ökonomisierung de Sozialstaates
Der deutsche Wirtschaftsethiker und Diplom-Volkswirt Sebastian Thieme warnt vor einer ökonomischen Überformung des Sozialstaates. Die Diskussion über sozialstaatliche Maßnahmen entferne sich immer mehr von ihrem eigentlichen Grund, nämlich die physischen und sozialen Grundbedürfnisse des Menschen zu decken und seine Selbsterhaltung zu gewährleisten, gab Thieme am Mittwoch in Wien zu bedenken. "In den Vordergrund rücken dagegen immer mehr Geld- und Effizienzfragen wie etwa die Vermeidung von Arbeitslosigkeit." Thieme äußerte sich beim traditionellen "ksoe"-Frühstück, zu dem die Katholische Sozialakademie Österreich (ksoe) regelmäßig einlädt.
Der Grund für diesen Wandel ist laut dem Wirtschaftsethiker eine Werteverschiebung weg von einem Sozialstaat, dessen Grundanliegen die menschenwürdige Existenz aller Personen ist, hin zu einer "Erziehung" der Menschen zu marktkonformem Verhalten. Wirkliche Gewinner gebe es innerhalb dieser ökonomischen Logik nicht. "Es ist einfach eine Art des Denkens, eine gewisse Logik, die sich in der Gesellschaft eingeschlichen hat und heute oft nicht mehr hinterfragt wird."
Gut sichtbar werde diese Werteverschiebung in der Diskussion um die Mindestsicherung. Eine Kürzung und Bindung an bestimmte Bedingungen stehen im Raum. Für Thieme ein klarer Verstoß gegen die Menschenwürde, das Prinzip der Subsidiarität und alle anderen ethischen und moralischen Standards, die dem Sozialstaat zu Grunde liegen. "Wenn wir mit der Mindestsicherung einen Standard festlegen, der menschenwürdiges Leben sicherstellen soll, dann kann diese nicht an Bedingungen geknüpft oder gekürzt werden und auch nicht einzelne Personengruppen ausschließen."
In der Flüchtlingsfrage ergebe sich daraus ein bedingungsloser Anspruch aller Asyl- und subsidiär Schutzberechtigten auf die volle Mindestsicherung, die auch nicht an die Erfüllung von Integrationsauflagen gebunden werden dürfe. Und auch das ökonomische Argument, die Mindestsicherung sei Anreiz für Flüchtlinge nach Europa zu komme, dürfe im Grunde keine Rolle spielen, so Thieme. "Es gibt keine halben Österreicher. Deshalb brauchen auch alle in Österreich lebenden Menschen die gleichen Mittel, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können."
Festlegung von Standards ist Aufgabe der Gesellschaft
Bei der Ausgestaltung sozialer Maßnahmen plädiert der Wirtschaftsethiker für eine bedarfsorientierte und nicht rein ökonomische Argumentation. Beispielhaft nennt er den oft für zu niedrig befundenen Abstand zwischen der Mindestsicherung und den Mindestlöhnen. Anstatt hier über eine Kürzung der Sozialleistung nachzudenken, sei es ethisch geboten, die Mindestlöhne zu erhöhen.
Bei der Festlegung von Standards sieht Thieme eine Verantwortung der ganzen Gesellschaft. Im Moment fehle aber die Betroffenenperspektive. Als Beispiel dient ihm der Umbau des Sozialsystems in Deutschland, den vor allem Manager, Bürokraten und Verwaltungsangestellte diktiert hätten. Thieme plädierte demgegenüber für eine Einbindung von Betroffenenverbänden.
Einigkeit herrsche darüber, was die physischen Grundbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung oder Wohnung betrifft. Schwieriger werde es bei der Festlegung sozialer Grundbedürfnisse. "Wie oft darf ich mit Freunden auf einen Kaffee gehen oder ein Geschenk kaufen?", fragte der Volkswirt. Die konkrete Ausformulierung von Sozialmaßnahmen müssten außerdem immer im Kontext der jeweiligen Zeit und Gesellschaft erfolgen.
Sebastian Thieme ist "ksoe-Schaschnig-Fellow". Die P.Johannes-Schasching-Fellowship ist eine Folge von fünf aufeinanderfolgenden Forschungsjahren je eines Wissenschaftlers bzw. einer Wissenschaftlerin an der Katholischen Sozialakademie (ksoe) in Wien. Das Leitthema dabei: "Unterwegs mit den Menschen - den Wandel gestalten", aufgegliedert in die fünf Bereiche Ethik der Nachhaltigkeit, ökonomische Theorien und Praktiken, Macht und Partizipation in wirtschaftlichen und politischen Zusammenhängen, Digitalisierung und globale Gerechtigkeit.
Das von Magdalena Holztrattner moderierte "ksoe-Frühstück" im "JesuitenFoyer" (Bäckerstraße 18, 1010 Wien) soll Fachleute zu Themen zusammenführen, die der ksoe und den Wiener Jesuiten wichtig sind und zu einer fixen Einrichtung werden, wie "Gastgeber" P. Friedrich Sperringer SJ eingangs sagte.
Quelle: kathpress