Heutige "Straßenkinder" brauchen Schutz
Zum bevorstehenden kirchlichen "Tag der Straßenkinder" (31. Jänner) hat die Hilfsorganisation "Jugend Eine Welt" (J1W) am Freitag in Wien konkrete Schutzmaßnahmen der EU für jugendliche Flüchtlinge gefordert. Viele minderjährige Flüchtlinge drohten besonders in den Hauptankunftsländern Griechenland und Türkei auf der Straße zu landen und Opfer von Gewalt und Ausbeutung zu werden.
Um einer drohenden Massenmigration von jungen Menschen aus Westafrika entgegenzuwirken, müsse Europa zudem rasch neue Wege in der Handels- und Entwicklungspolitik einschlagen. Die EU müsse in Fluchtregionen über Gefahren informieren, mahnte der in Sierra Leone tätige Salesianerbruder Lothar Wagner im Interview mit "Kathpress".
In Istanbul oder Athen mehren sich die Berichte von Kindern, die betteln, der Prostitution nachgehen, Straßenmusik ihr Geld verdienen oder Taschentücher oder andere Kleinutensilien verkaufen, zeigt sich J1W-Vorsitzender Reinhard Heiserer besorgt. "Wir befürchten, dass sich diese Situation noch weiter verschärft, wenn immer mehr Flüchtlinge an innereuropäischen Grenzen zurückgewiesen werden." Besonders gefährdet seien unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die zur Prostitution oder zum Betteln gezwungen würden.
Das bestätigt auch Dina Vardaramatou von der griechischen Nichtregierungsorganisation Praksis, die sich in den Aufnahmezentren Moria und Kara Tepe um minderjährige Flüchtlinge kümmert: "Wir haben unbegleitete Kinderflüchtlinge gesehen, die sich prostituieren oder unter horrenden Bedingungen 'arbeiten' mussten, damit sie die Miete für die Unterkünfte bezahlen können, die Schmuggler an sie vermieten", so die Sozialarbeiterin.
In den betroffenen Ländern sei ein viel entschlosseneres Vorgehen von Polizei und Justiz gegen den Missbrauch von Jugendlichen und den organisierten Kinderhandel nötig, betont Heiserer. Ausreichende Ressourcen müssten dafür zur Verfügung gestellt werden. Wichtig wäre zudem, Jugendliche verstärkt über Gefahren aufzuklären - und zwar unmittelbar nach ihrer Ankunft in Europa, aber auch in ihren Heimatländern. "Denn viele Jugendliche, die sich ohne Begleitung auf den Weg nach Europa machen, haben völlig falsche Vorstellungen, was sie hier erwartet", so der Vorsitzende von J1W.
Sierra Leone: Jugend packt die Reisetaschen
Der Salesianer Lothar Wagner, Direktor des größten Straßenkinderzentrums in Sierra Leone, bestätigte die Worte Heiserers. Die Situation in Westafrika sei nach der Ebola-Epidemie weiter kritisch, berichtete der deutsche Ordensmann im Interview mit "Kathpress". Abzusehen sei bereits, dass noch im Frühjahr zahlreiche junge Menschen in Richtung Europa aufbrechen würden, das wie ein Paradies gesehen werde. "Ich wurde vor meiner Reise wiederholt darauf angesprochen, ob es wahr sei, dass man in Österreich vom Staat Geld bekommt, wenn man keine Arbeit hat", so Wagner.
Die Migrationswelle, die sich da für Europa andeute, werde jedenfalls "größer als jene aus Syrien" sein. Viele westafrikanische Familien würden bereits ihr Geld zusammenlegen, um jungen Männern aus ihren Reihen die Ausreise zu ermöglichen, wobei hier Botschaften wie Zäune oder Obergrenzen keine abschreckende Wirkung hätten. "Die Jugendlichen sitzen bereits auf gepackten Reisetaschen. Sie fühlen sich in ihrem Land nicht gebraucht, sehen keine Zukunftsperspektive und glauben, dass sie nichts verlieren, wenn sie weggehen", so Wagner.
Gewichtige Mitschuld an der Hoffnungslosigkeit in Sierra Leone - das Land gehört zu den acht ärmsten der Welt - gibt Wagner der Handelspolitik der reichen Länder. Schließlich seien es die hochsubventionierten Exporte aus dem Norden, die die Region überschwemmen und die dortige Wirtschaft zerstören würden. Auch manche gut gemeinte Hilfe sei kontraproduktiv. "Wir haben in unserem Don Bosco-Zentrum hunderte Straßenkinder zu Schneiderinnen ausgebildet. Doch gegen importierte Altkleider aus Österreich haben selbstgenähte Kleidungsstücke aus lokal angebauter Baumwolle keine Chance", schilderte Wagner.
Die Lösung wäre für den Salesianerbruder ein Paradigmenwechsel in der internationalen Handels- und Entwicklungspolitik: Reiche Länder sollten mithelfen, die lokalen Märkte der "Entwicklungsländer" aufzubauen und dort faire Arbeitsplätze schaffen, was allerdings auch eine weltweite Umverteilung von Arbeit bedeuten würde. Wagner: "Dass enormes Arbeitskräftepotenzial in der Region steckt, hat man in der Ebola-Krise gesehen: Die jungen Leute packen an." Auch dürfe Westafrika nicht nach der beendeten Ebola aus dem internationalen Blickfeld verschwinden. Weiterhin sei die Region etwa im Bildungs- und Sozialsektor "alles andere als gesund".
Don Bosco-Tag im Zeichen der Flüchtlinge
Der "Tag der Straßenkinder" am 31. Jänner erinnert an den Jugendheiligen und Ordensgründer Don Giovanni Bosco (1815-1888), der sich in Turin für die benachteiligte und gefährdete Jugend kümmerte und dessen Fest am letzten Tag des Monats Jänner gefeiert wird. Die Hilfsorganisation "Jugend Eine Welt" macht aus diesem Anlass österreichweit auf die schwierigen Lebensumstände von Straßenkindern aufmerksam und rückt jedes Jahr einen anderen Länderschwerpunkt in den Vordergrund - 2016 ist es Sierra Leone. (www.tagderstrassenkinder.at)
Quelle: kathpress