Nichts als Leere
„Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittag eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ‚Ich suche Gott! Ich suche Gott!’ Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. (…) Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. ‚Wohin ist Gott?’ rief er, ‚ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet - ihr und ich! Wir sind seine Mörder! Aber wie haben wir das gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun?’“
Wohl kaum ein Text über den Atheismus hat Philosophen wie Theologen in den letzten 100 Jahren so sehr herausgefordert wie jener berühmte Aphorismus Friedrich Nietzsches’ über den „tollen Menschen“. Auch heute marschieren sie wieder, die Laternenträger – doch längst haben sie die Suche nach Gott aufgegeben, längst sind sie über alle Zweifel ihrer Tat erhaben. Erleuchtet sind sie tatsächlich, die „Brights“, die Künder des „neuen Atheismus“, die sich seit einigen Jahren hinter ihren Galionsfiguren Richard Dawkins, Christopher Hitchens oder Daniel Dennett versammeln. Ihre Fackel ist die Fackel der naturwissenschaftlichen Vernunft, ihr Gott der evolutive Prozess, ihr Fetisch der Naturalismus.
Gott als Arbeitshypothese ist für sie überflüssig geworden – so lautet ihre Botschaft, die sie in Pamphleten wie dem jüngsten Dawkins-Reißer „Die Schöpfungslüge“ oder Stephen Hawkings „Großer Entwurf“ verkünden. Der Blick in die Bestsellerlisten auch hierzulande zeigt: Atheismus ist wieder ein Thema – und er spült zugleich die letzten Reste jener fröhlichen Religiosität weg, die zuvor so schillernde PR-Perlen wie den „Megatrend Spiritualität“ oder die viel besungene „Wiederkehr der Religion“ hervorgebracht hatte.
Doch was macht den Reiz dieses „neuen Atheismus“ aus? Vor allem ist es seine Voraussetzungslosigkeit. Man muss sich nicht mehr in der Geistesgeschichte auskennen, geschweige denn in der Bibel – im Übrigen aber auch nicht in den Naturwissenschaften. Ob Evolution, Urknall oder kirchliche Sündenregister – es gibt nichts, was Dawkins und Co. nicht in leicht verdaulichen Happen servieren. Außerdem liefern die „Brights“ ein eindeutiges Weltbild in Zeiten der Unsicherheit: Spätestens der 11. September 2001 hat die hässliche, gewalttätige Fratze der Religion – und dabei speziell des Monotheismus – neu zum Vorschein gebracht. Gott, das ist jene unberechenbare Kraft, die Menschen dazu bringt, sich im Dienste einer höheren Wahrheit in die Luft zu sprengen. Weg damit.
Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittag eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ‚Ich suche Gott! Ich suche Gott!’ Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. (…) Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. ‚Wohin ist Gott?’ rief er, ‚ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet - ihr und ich! Wir sind seine Mörder!'
Man muss es allerdings offen sagen: Dem spätmodernen Menschen ist der Atheismus näher als der Theismus. Für ihn steht der „Leere Stuhl des Messias“ (A. Heller) in der Regel nicht mehr im Zentrum, er spürt oftmals nicht einmal mehr den Schmerz des Vermissens dieses leeren Stuhls. Das räumt im Übrigen selbst Papst em. Benedikt XVI. ein, wenn er in einem Interview konstatiert: „Für viele ist der praktische Atheismus heute die normale Lebensregel.“ Kein Gottvermissen mehr, schon gar keine Gottesvergiftung – höchstens noch ein stückweit kollektive Melancholie darüber, dass man nicht einmal mehr weiß, was man eigentlich vermisst.
Was waren das dagegen für glückselige Zeiten, als Atheismus noch eine theologische Herausforderung war. Als Atheisten in der Frage nach dem ungerechten Leiden noch wie ein Schwert schwangen und darin mit Büchner den „Fels des Atheismus“ sahen. Als agnostisch gestimmte Geister dem biblischen Erbe zu neuen Ehren in der Philosophie verhalfen, indem sie ihm ein Gespür für das Unabgegoltene in der Geschichte zuerkannten.
Alles aus und vorbei. Kehrtwende in den Diskursen, Naturalismus ist angesagt, Reduktion des Lebens auf seine biologistischen Grundvollzüge. Das Ich in seiner ganzen Komplexität wird dabei ebenso verabschiedet wie der Glaube. Religion – nicht mehr als ein Trick der Evolution, um mit dem elenden Leben besser zu Recht zu kommen. Das haben wir nicht erst Dawkins zu verdanken, er hat es jedoch geschafft, sich durch den geschickten Vermarktungskreuzzug seiner Thesen an die Spitze einer ganzen Bewegung zu setzen – oder diese erst zu initiieren.
Gewiss, das Theoriegebäude der „neuen Atheisten“ ist brüchig. So kann man einen rein funktionalen Religionsbegriff konstatieren und sich über die geradezu unwissenschaftliche Selbstgewissheit nur amüsieren. Aber man muss ernsthaft rückfragen: Kann man den Menschen tatsächlich einfach so auf Chemie im Kopf reduzieren, auf eine Vorspiegelung im limbischen System? Sieht so Aufklärung aus? Nimmt man ihm dabei nicht – ganz nebenbei – noch die Verantwortung für sein Tun ein stückweit aus der Hand? Wie gehen sie um mit der metaphysischen Resignation der Menschen, die sich subjektmüde und sehnsuchtsfrei in ihr wunschloses Unglück ergeben? Was haben sie zu bieten an symbolischer Ordnung? Die traurige Wahrheit: Dawkins und Co. sehen darin „kein Problem, denn Böses und Leiden kommen in den Berechnungen zum Überleben der Gene nicht vor“. Biologie kennt keine Rücksichten.
Was bleibt also vom „neuen Atheismus“? Auf der einen Seite seine politische Mission, die mitunter gar eine Berechtigung hat. Auf der anderen Seite – Leere und mit ihr erneut Nietzsche. Denn über ihn und seine Verzweiflung kommen auch die Brights nicht hinweg, wenn er fragt: „Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden?“
Nietzsche focht noch einen Kampf gegen die „Sklavenmoral“ des Christentums, Gott war ihm der Tod des freien Gedankens, Religion bloße Repression. Auf dieser Ebene jedoch wollen die Brights – nichts. Sie zielen auf keine neue Moral, auf keinen Entwurf. Aber natürlich haben sie eine Mission – und diese ist durch und durch politisch. Denn Religion ist gerade in den USA weder Privatsache noch marginalisiert – sie ist Wirtschaftsmacht und Politikum. Sie ist ein Player der Zivilgesellschaft mit klaren bildungspolitischen Avancen, gestützt von einem dichten Netz religiöser Stiftungen, privater TV-Kanäle und Verlage – und dies mit Erfolg, wie Umfragen immer wieder bestätigen, zeigen sich doch über 90 Prozent der Amerikaner von der Existenz Gottes überzeugt, gut die Hälfte geht davon aus, dass die Erde vor rund 6000 Jahren entstanden ist. Wen wundert’s da, dass Dawkins über sein jüngstes Buch zur „Schöpfungslüge“ schreibt, „Dieses Buch ist notwendig.“
Was bleibt also vom „neuen Atheismus“? Auf der einen Seite seine politische Mission, die mitunter gar eine Berechtigung hat. Auf der anderen Seite – Leere und mit ihr erneut Nietzsche. Denn über ihn und seine Verzweiflung kommen auch die Brights nicht hinweg, wenn er fragt: „Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden?“ Aber es gibt noch ein anderes, erschreckendes Ende der Geschichte. Auch dieses findet sich bei Nietzsche. Es ist die zarathustrische Vision vom „Übermenschen“, die Idee des Eingriffs in den aus jeglichem Moralkorsett und Sinnzusammenhang herausgelösten Menschen. Es war nicht zuletzt Peter Sloterdijks Adaption dieses Impulses in seinem Text „Regeln für den Menschenpark“, der bei Habermas dazu führte, eine Lanze für den biblischen Gott zu brechen. Denn Habermas hatte erkannt: wo zumindest die Idee eines Schöpfers noch existiert, wo der leere Stuhl Gottes weiterhin im Raum steht, dort ist er die letzte Bastion, die noch die Kreatürlichkeit des Menschen verteidigt.
Redakteur "Kathpress"