Wer hat die Macht im Vatikan?
Wie viele Divisionen hat der Papst?" Mit diesen spöttischen Worten lehnte Josef Stalin angeblich die Beteiligung des Vatikans an den Friedensverhandlungen nach dem Zweiten Weltkrieg ab. Sie brachten dabei jedoch eine bis heute gültige Tatsache auf den Punkt: In rein weltlichen Kategorien bemessen besitzen Papst und Kirche keine Macht.
Damit könnte dieser Text über die Macht in der Kirche bereits enden, wären da nicht die vielen kleinen Zwischentöne und Nuancen im Begriff der Macht, durch die die katholische Kirche bei genauem Hinsehen doch wieder zu einem Global Player auf allen Ebenen wird. Und wären da nicht jene, von Verschwörungstheorien eng durchwobenen, mit "Vatileaks" betitelten Vorgänge, die sich selbst ein Autor wie Dan Brown nicht bunter und dramatischer hätte ausdenken können. Vorgänge, die zugleich deutlich machen, dass Kirche immer auch ein weltlicher, ein von einem Rechtssystem reglementierter Raum ist. Der Papst ist eben nicht nur geistliches Oberhaupt, sondern zugleich Exekutive, Judikative und Legislative des Vatikanstaates in einer Person.
» Tipp: Dossier Papst & Vatikan
Tatsächlich griff der machtvolle Arm der Kirche just in jenen beiden Bereichen zu, in denen die Kirche gegenwärtig noch eine Bastion der Macht ist: im Bereich der Finanzgeschäfte sowie im Bereich der Informationspolitik. So wurde der Präsident der Vatikanbank IOR, Ettore Gotti Tedeschi, durch ein Misstrauensvotum der zuständigen Kardinalskommission von der Spitze der Bank entfernt, und der Kammerdiener des Papstes, Paolo Gabriele, wegen der Weitergabe von Geheimdokumenten von der vatikanischen Gendarmerie gefasst.
Insbesondere die "Causa Gabriele" sorgte zuletzt für internationales Aufsehen. Die "Vatikanisti" - ein elitärer Club von Vatikan-Journalisten - sind sich dabei einig: Gabriele mag Dokumente aus dem "inner circle" um den Papst entwendet und vielleicht gar Journalisten zugespielt haben - der entscheidende "Kopf" hinter all den Enthüllungen ist er jedoch nicht. Geld könnte eine Rolle gespielt haben, meint etwa der anonyme "Maulwurf" von "La Stampa". Und diese Quelle sagt auch, was viele vermuten: dass die Enthüllungsaktion letztlich gegen Kardinalsstaatsekretär Tarciso Bertone gerichtet ist, der manchem im Vatikan zu mächtig geworden sei.
Gewiss, die Vatileaks-Causa liest sich wie ein Krimi. Dennoch ist im Blick auf die Macht des Vatikans eine Entmythologisierung angesagt. Denn tatsächlich ist Macht, wie sie in der Administration des Heiligen Stuhls rechtlich geronnen ist, ein sehr relativer Begriff. Selbst die päpstliche "Allmacht" als absoluter Monarch des Vatikanstaates - wenn auch de facto seit dem Ersten Vatikanischen Konzil 1870 in Lehrund Sittenfragen festgeschrieben - ist in hochgradig ausdifferenzierte Meinungsbildungs- und Entscheidungsinstanzen eingebettet.
Dem Papst ist seine Macht nur geliehen
Für demokratiegeübte Zeitgenossen mag diese Machtfülle dennoch ein nur schwer zu begreifendes Gräuel sein. Aber tatsächlich ist die Macht des Papstes eine Macht der Stellvertretung: Sie ist ihm als Oberhaupt der Kirche geliehen. Daher ist sie auch nur begreifbar, wenn man ein über die bloße weltliche Dimension hinausgehendes Moment in ihr erkennt. Ein Moment, das der Evangelist einfängt, wenn er Jesus sagen lässt: "Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen". Macht in kirchlicher Semantik ist immer mehr als nur Macht. Sie meint Gabe, unverdiente Gnade und ebenso verantwortungsvolle Bürde. "Ich habe keine anderen Hände als die Euren", heißt es etwa passend auf einem Kreuz in einer Kirche im westfälischen Münster. Daher ist es zwar wahr, dass der Papst absoluter Monarch ist - ein Willkürherrscher ist er deshalb noch lange nicht.
Außerdem darf man nicht vergessen: Auch Vatikan und Papstamt sind nicht vom Himmel gefallen, sondern selbst Ergebnis langer, verschlungener historischer Entwicklungen. Aus der anfänglichen kollegialen Leitungsstruktur ohne den "Primus inter pares", den Ersten unter Gleichen, ging erst langsam ein komplexes System von Zuständigkeiten hervor. Heute kann der Papst mit der Kurie auf einen komplexen und gleichwohl machtvollen Verwaltungsapparat zurückgreifen.
Die Kurie gliedert sich in das Staatssekretariat, neun Kongregationen, elf Päpstliche Räte, drei Gerichte und weitere Einrichtungen wie die Päpstlichen Akademien, Kommissionen, die vatikanischen Medien, die Archive und Bibliotheken. Angesichts von rund 1,1 Milliarden Katholiken weltweit nehmen sich die rund 2700 Mitarbeiter der Kurie denkbar bescheiden aus. Präzision ist gefragt und natürlich Diskretion.
Dass man es in der Kirche mit Machtverhältnissen und eben nicht mit demokratischen Strukturen zu tun hat, merkt vor allem der einfache Gläubige. Seien es Fragen der Moral, der Sittenlehre, seien es Auflagen zum Sakramentenempfang wie etwa Einschränkungen für wiederverheiratete Geschiedene - stets regeln die Canones (Paragraphen) des kirchlichen Gesetzbuches ("Codex Iuris Canonici"), die Lehrentscheide der Glaubenskongregation und natürlich die nationalen Bischofskonferenzen den konkreten Glaubensvollzug.
Die Macht bekommen die Gläubigen zu spüren
Tatsächlich besteht der Codex zu gut einem Drittel aus Straf- und Prozessbestimmungen. Ausgedehnte kirchliche Strafenkataloge sollen Gewalt und Recht binden, aber sie wirken auf den Laien zugleich wie eine lustvolle Fokussierung auf menschliche Verfehlungen. Doch auch hier muss gelten: Der Buchstabe bindet die Macht. Rechtsprechung ist keine Willkür, sondern an Vorgaben gebunden, auf die sich auch der einfache Gläubige jederzeit berufen kann. Nicht umsonst wurden - übrigens zum ersten Mal überhaupt - den Laien im CIC von 1983 ausdrückliche Rechte eingeräumt.
Auch wenn der Kirchenstaat seine Legitimation aus höheren Quellen bezieht: Vatikan und Papst sind und bleiben eminent politische Subjekte. Wer daran Zweifel hegt, der möge sich an die friedlichen Umstürze in Osteuropa 1989 erinnern, die nicht zuletzt Frucht der Diplomatie und des politischen Einflusses Johannes Pauls II. in Polen waren. Die dem Papstamt entspringende politische Macht ist dabei jedoch nicht mehr einer manifesten Streitmacht oder dem Charisma des Amtes verdankt.
Politische Macht ist im Vatikan heute das Ergebnis harter diplomatischer Arbeit. Diese wird vor allem durch die rund 180 "Außenstellen" des Vatikans - die Nuntiaturen genannten Ländervertretungen - geleistet. Anders gesagt: "Die" Währung der politischen Macht heute ist die Information. Und in dieser Währung ist der Vatikan durchaus noch sehr liquide. Denn das ist sein Pfund, mit dem er wuchern kann: die zahlreichen, hochqualifizierten, an eigenen Akademien ausgebildeten Diplomaten, die detailliert über Situationen in Ländern berichten.
Außerdem verfügt der Vatikan über ein weltweites Mediennetz. "Radio Vatikan", aber auch die Vatikanzeitung "Osservatore Romano" und - in jüngerer Zeit die Webaktivitäten des Heiligen Stuhls sorgen dafür, dass "die Stimme des Papstes in der Weltkirche" nicht verstummt. Aber was wäre alles diplomatische Geschick ohne einen gewissen "pekuniären background": Der Vatikan und seine Finanzen sind ja immer wieder Anlass von Spekulationen und Verschwörungstheorien gewesen.
Gewiss, der Vatikan ist auch eine Wirtschaftsmacht. Genauer gesagt: die Kirche. Denn der Haushalt des Heiligen Stuhls nimmt sich mit rund 250 Millionen Euro geradezu bescheiden aus. Jede größere Diözese verfügt über ein üppigeres Budget.
Die Vatikanbank im Verdacht der Geldwäsche
Für regelmäßiges mediales Interesse sorgt die mythenumrankte Vatikan-Bank IOR ("Institut für die religiösen Werke"). Bekannt wurde die IOR in den 1980er Jahren durch einen handfesten Skandal, als sie in den Geruch von Geldwäsche und Mafia-Kontakten kam. Höhepunkt war 1982 die Verwicklung der IOR in den Untergang der Mailänder Banco Ambrosiano - auch wenn der Vatikan bis heute jede Verantwortung abstreitet. Johannes Paul II. hat die Bank in der Folge auf gänzlich neue institutionelle Füße gestellt.
Das in der IOR gehortete Vermögen wird heute auf rund sechs Milliarden Euro geschätzt. Der daraus erwirtschaftete Gewinn steht dem Papst zur Verfügung. Johannes Paul II. machte damit durchaus Politik: Er unterstützte etwa maßgeblich die polnische Gewerkschaft Solidarnosc im Kampf gegen die kommunistischen Machthaber.
Zuletzt ist die IOR erneut in die Schlagzeilen geraten. So wurde im März bekannt, dass die USA den Vatikan auf eine Liste von Staaten gesetzt haben, die wegen des Verdachts auf Geldwäsche beobachtet werden. Die Vatikanbank wird derzeit daraufhin geprüft, ob sie internationale Standards im Kampf gegen Geldwäsche und dubiose Finanzgeschäfte sowie Terrorfinanzierung einhält. Ende 2010 hatte Papst Benedikt XVI. eine vatikanische Finanzaufsichtsbehörde geschaffen, die über Beachtung der entsprechenden Normen wachen soll. In diesem Zusammenhang wurde nun Bankchef Tedeschi der Rücktritt nahegelegt.
Über das Portfolio des Vatikans ist wenig bekannt. Es besteht zu etwa drei Vierteln aus festverzinslichen, also konservativ veranlagten Wertpapieren, der Rest sind Aktien. Die Orden besetzen gerne Schaltstellen Pro Jahr erwirtschaftet der Vatikan Zinserträge von rund 30 Millionen Euro. Hinzu kommen rund 80 Millionen Euro pro Jahr an Spenden und Zuwendungen aus aller Welt. Der von allen Diözesen für den Vatikan gesammelte "Peterspfennig" bringt nochmals rund 70 Millionen Euro ein. Hinzu kommt Immobilienbesitz vor allem in Italien. Bei der Zahl der Objekte schwanken jedoch die Angaben erheblich - zwischen 800 und 2500. Der daraus erwirtschaftete Erlös beträgt pro Jahr rund 30 Millionen Euro.
Bleibt am Ende noch ein gewichtiger, schwer zu fassender "Player" der vatikanischen Politik: die Orden. Seien es die Jesuiten, die Legionäre Christi oder das Opus Dei: Sie alle sind zweifellos auf Einfluss in den Leitungsgremien bedacht. Wer es schafft, wichtige Posten mit eigenem Personal zu besetzen, wie etwa die Salesianer mit Tarcisio Bertone oder die Jesuiten mit Presseamtschefs Federico Lombardi, der zählt in der innerkirchlichen Machtlogik. Aber darüber hinaus? Natürlich, es ist verlockend für Gemeinschaften, Personen an Schaltstellen zu positionieren - aber man sollte diesen Einfluss auch nicht überschätzen.
Als "Aufsteiger" gelten im Pontifikat Papst Benedikts XVI. die Salesianer, "Communione e Liberazione", die "Legionäre Christi", aber auch die einflussreichen "Kolumbusritter" und die Jesuiten: konservative Gruppen mit finanzkräftigen Zirkeln im Hintergrund.
Macht kann auch zu Machtmissbrauch führen
Gewiss, auch die "andere Seite" dieser effektiven Funktionalität darf nicht unerwähnt bleiben: Die reale Möglichkeit des Machtmissbrauchs. Beispiele sind etwa von Bischöfen ausgesprochene Rede- Diskussionsverbote oder Drohgebärden gegen "Ungehorsame". Genauer betrachtet handelt es sich dabei um Machtspielchen, um Interessenspolitik.
Wie viele Divisionen hat also der Papst? Wenige Jahre nach dem Tod Stalins soll Papst Pius XII. die Frage beantwortet haben: "Jetzt wird er sehen, wie viele Divisionen wir haben." Und wenn es nicht stimmen sollte, so wäre das Zitat zumindest gut erfunden - wie so vieles rund um den Mythos Macht im Vatikan.
Quelle: H. Klingen | erschienen in Liborius-Mag. 13/2012