Missbrauchsexperte Mertes: "Schönborn hat mir sehr geholfen"
Der deutsche Jesuit Klaus Mertes deckte im Jahr 2010 den Missbrauchsskandal am katholischen Canisius-Kolleg in Berlin auf. Seither gilt er als kirchlicher Experte für Missbrauch im katholischen Kontext. Bei einem Wien-Besuch dieser Tage hielt Mertes einen Vortrag über das Verhältnis der deutschen katholischen Kirche zur rechtsextremen AfD. Im Kathpress-Interview nahm Mertes zu beiden Themen wie auch zum Synodalen Prozess in der Kirche Stellung. Im Blick zurück auf die Anfänge des Missbrauchsskandals 2010 in Berlin hob Mertes die positive Rolle von Kardinal Christoph Schönborn hervor: "Schönborn hat mir damals sehr geholfen."
Schönborn sei der einzige Kardinal oder Bischof gewesen, der sich damals persönlich bei ihm gemeldet hätte. "Ich war in der Deutschen Bischofskonferenz der Buhmann, und insofern hat mir das gutgetan."
Mertes erinnerte an seine Einladung nach Wien, wo er im Oktober 2010 im Stephansdom bei der Wiener Diözesanversammlung einen Vortrag halten konnte. Mit einer Bußfeier im Stephansdom, der Einrichtung der unabhängigen Klasnic-Kommission, der raschen Auszahlung von Therapie- und Entschädigungszahlungen und der Überarbeitung der kirchlichen Richtlinien habe Kardinal Schönborn wichtige Akzente gesetzt, sagte Mertes schon damals. Das wäre zu dieser Zeit in Deutschland undenkbar gewesen. Österreich sei hier für ihn als Vorbild sehr hilfreich gewesen.
Inzwischen hätten sich die Dinge auch in der Deutschen Bischofskonferenz verändert. Eine neue Generation von Bischöfen sei am Ruder, "aber es ist nach wie vor eine Wunde".
Skeptisch zeigte sich der Jesuit einmal mehr gegenüber einer "allergisch scharfen Verurteilungsrhetorik von Klerikern gegenüber Tätern". Nach dem Motto: "Der Täter ist der Böse und Fremde im System. Er kommt von außen und verunreinigt das System, das ja eigentlich rein ist." In dieser Richtung argumentiere auch Papst Franziskus oft, wenn er etwa davon spreche, das Übel ausmerzen zu wollen. Das werde so schlicht nicht gelingen, zeigte sich Mertes überzeugt. Es brauche eine Daueraufmerksamkeit für die Gefahr des Missbrauchs, ganz gleich, wie sich die Kirche entwickle.
Was es im Blick auf den Missbrauch braucht? - Zum einen gelte: "Die Betroffenen müssen wissen, dass das, was ihnen widerfahren ist, von der Institution gesehen und anerkannt wird. Also unabhängige Aufarbeitungsberichte ist das erste." Zweitens müsse es Gerechtigkeit - "im weitesten Sinne" - geben. Das betreffe etwa Hilfszahlungen oder Schmerzensgelder. Wobei davon auszugehen sei, "dass es nicht in allen Fällen zu Frieden führen wird und kann. Der Schaden kann ja letztlich nicht über materielle Wiedergutmachung gut gemacht werden. Jedenfalls in vielen Fällen nicht. Aber trotzdem braucht es ein glaubwürdiges System der Hilfe, der Zahlungen und der Anerkennung, das mit der Einrichtung der UKA (Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen) nun auch in Deutschland erstmalig vorliegt." Das dritte sei eine umfassende Präventionsarbeit.
Gerade auch, weil der Missbrauch bei weitem nicht nur ein kirchliches Problem ist, habe die Kirche eine besondere Rolle bzw. Verantwortung, zeigte sich Mertes überzeugt: "Die Kirche muss bei sich selbst anfangen und dadurch in die Gesellschaft hineinwirken." Das sei durchaus auch schon der Fall. Er sei in den vergangenen Jahren etwa oft von Jugendämtern, Jugendpsychiatrie, Psychologen, Therapeuten, Kliniken, einschlägigen Verbänden oder Schulen als Experte angefragt worden. Das spiele sich zwar außerhalb der medialen Wahrnehmung ab, sei aber essenziell. Mertes: "Je intensiver und glaubwürdiger sich die Kirche des Themas annimmt, umso größer ist auch die Wirkung nach außen."
Erklärung gegen AfD
Mertes begrüßte im Kathpress-Interview einmal mehr die Erklärung der deutschen Bischöfe vom Februar 2024, in der diese jeder Form von völkischem Nationalismus eine Absage erteilt hatten. Dieser sei unvereinbar mit dem christlichen Gottes- und Menschenbild. Insbesondere in der AfD dominiere "nach mehreren Radikalisierungsschüben" inzwischen eine "völkisch-nationalistische Gesinnung". Mertes: "Die eigentliche Vision der Kirche ist ja, eine Kirche aus allen Völkern zu sein und eben nicht ein homogenes kulturelles Gebilde."
Es gebe in der AfD auch Politiker aus dem katholischen Milieu. Und wenn den Bischöfen von mancher Seite der Vorwurf gemacht wird, dass ihre Erklärung bzw. Position zu einer Spaltung führe, dann müsse er sagen: "Manche Spaltung ist in Kauf zu nehmen, um Positionen zu klären." Hätten die Bischöfe nichts gesagt, hätte das ihre Position geschwächt, auch innerkirchlich. Dass AfD-Amtsträger nun keine innerkirchlichen Ämter bekleiden dürfen, werde von den Diözesen in Deutschland auch umgesetzt.
Auf die Wählerinnen und Wähler der AfD angesprochen, verwies der Jesuit auf die deutschen Bischöfe, die die Formulierung gebrauchten: "Der Rechtspopulismus ist der schillernde Rand des Rechtsextremismus, von dem er genährt wird." Natürlich hätten viele Menschen die AfD vor allem aus Protest gegen die bisherige Politik gewählt. "Aber mit der Protestwahl begibt man sich in ein Milieu hinein, das einen ideologischen Sog hat, den man nicht unterschätzen darf. Es geht um Fremdenfeindlichkeit und ein dezidiertes völkisches Selbstverständnis." Damit leiste man auch als Protestwähler einer Radikalisierung ins rechte Milieu hinein Vorschub.
Die größte Sorge mache ihm derzeit, so Mertes, dass es gegen diese Radikalisierung bzw. die AfD in der CDU und CSU keine argumentativ starke Positionierung mehr gibt, "höchstens noch eine emotional hochgezogene Brandmauer, die aber sehr schnell zusammenbrechen kann, wenn die Mehrheitsverhältnisse prekär werden. Das wäre meine größte Sorge."
Bildung ist zentral
Mertes räumte ein, dass die Kirche in dieser politischen bzw. gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung medial keine besondere Rolle mehr spiele. Trotzdem müsse sie ihre Stimme erheben, zugleich sollte sie aber verstärkt im Bereich der Bildung aktiv werden. "Mein Eindruck ist, dass die Kirche da eine Rolle spielt, wo sie an der Basis tatsächlich wirksam ist." Der Bildungsbereich ist für den Jesuiten entscheidend. Man müsse langfristig denken. "Es geht nicht darum, ein paar Artikel in Medien zu platzieren. Dazu ist die Krise zu tief. Wir müssen im Bildungsbereich ansetzen, also in den Schulen."
Freilich seien gerade auch für die Kirchen und Religionen im Bildungsbereich die Herausforderungen groß, so der Jesuit: "Ich komme aus Berlin, da wird Religion im Bildungsbereich und darüber hinaus vor allem als Problem gesehen", so Mertes: "Und dann wird Religionspolitik vor allem als Präventionspolitik begriffen. Das geht aber schief." Einer nach wie vor religiös geprägte Schülerschaft mit Migrationshintergrund stehe einer säkularen Lehrerschaft gegenüber, die mit religiösen Fragen nichts mehr anfangen könne. Es fehle bei den Lehrenden die religiöse Grundbildung. Sich als religiös bekennende Schüler würden als Bedrohung der eigenen intellektuellen Ordnung wahrgenommen.
In Berlin sei der Ethikunterricht im Grunde als ein Präventionsprogramm gegen religiösen Fundamentalismus eingeführt worden. "Damit wird man aber nicht weiterkommen, weil damit die Religion bzw. die Schülerinnen und Schüler unter Fundamentalismus-Verdacht stehen, sobald sie sich religiös äußern."
Mertes diagnostizierte eine "intellektuelle Wehrlosigkeit gegenüber religiösen Fragestellungen". Vor Kurzem sei er in einer Kirche gesessen, "da kommt ein Vater mit seinem Sohn rein. Fragt der Sohn den Papa: 'Wer ist denn der Mann am Kreuz?' Und der Papa sagt: 'Weiß ich auch nicht.'" - Die Gesellschaft werde nicht darum herumkommen, die Frage nach Gott neu als allgemeine Bildungsfrage ernst zu nehmen und sie nicht als Bedrohung abzukanzeln.
Unausweichlicher Reformmarathon
Zur Frage, ob sich die Kirche angesichts dieses dramatischen Befundes nicht viel zu sehr mit sich selbst beschäftige - Stichwort Synodaler Prozess-, meinte Mertes, dass man beide Aufgaben nicht gegeneinander ausspielen dürfe. Der synodale Prozess, ausgelöst nicht zuletzt durch die Missbrauchskrise, "ist unverzichtbar und wird auch noch weitergehen, weltweit".
Es werde aber wohl noch Jahrzehnte dauern, bis sich die Fragestellungen, die sich aus der Tatsache des Missbrauchs und vor allem dessen Vertuschung ergeben, wirklich weltweit angekommen sind, meinte Mertes. "Insofern ist das ein ganz zentraler und wichtiger Prozess. Es bedarf aber zugleich natürlich auch einer verstärkten Präsenz in der Welt, die die Sorgen und Nöte der Menschen wahrnimmt." Diese Spannung müsse man aushalten.
Grundsätzlich lobende Worte fand der Jesuit in diesem Zusammenhang auch für den Synodalen Weg in Deutschland, wiewohl er zwei Bedenken anmerkte. Einerseits seien bei den Verantwortlichen auf Ebene der Bischöfe und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken Hoffnungen geweckt worden, die am Ende nicht erfüllbar seien und die Frustration noch verstärken würden. Zweitens finde er, "dass es eine zu enge Verquickung der kirchlichen Reformagenda mit der Aufarbeitung von Missbrauch gibt". Er halte zum Beispiel die katholische Sexualmoral mit ihrer Zuspitzung auf einen sehr eng gefassten Naturbegriff für "problematisch bis sogar falsch. Unabhängig davon, ob es Missbrauch gibt oder nicht."
Der Jesuit bekräftigte einmal mehr seine Forderung nach einer wirklichen Gleichstellung von Mann und Frau in der Kirche, was auch die Öffnung des Priesteramts für die Frauen einschließe. Und das habe nichts mit Missbrauch zu tun. Derzeit bestehe hingegen die Gefahr, "dass die Reformfragen gleichsam zu Präventionsfragen werden". Nachsatz: "Das funktioniert aber nicht."
Andererseits müsse man anerkennen, dass es ohne den Synodalen Weg in Deutschland und die Aufarbeitung des Missbrauchs wohl nicht so viel Bewegung in Rom gegeben hätte.
Eindringlich plädierte der Jesuit zugleich für mehr Dezentralisierung in der Kirche. Er verwies in diesem Zusammenhang auch auf das Vatikan-Schreiben "Fiducia supplicans" und das Papst-Schreiben "Amoris laetitia". Auch wenn "Fiducia supplicans" bei manchen am Ende viel Kopfschütteln ausgelöst haben mag, so lasse der Papst damit eine Handlungsoption offen - mit einer bewussten Zweideutigkeit. Das ermögliche Segnungen homosexueller Paare. Die Fußnote aus "Amoris laetitia" wiederum, "für einige eine schreckliche Fußnote", ermögliche in bestimmten Kontexten die Spendung der Sakramente für wiederverheiratete Geschiedene.
Fazit: Es gebe bei Papst Franziskus schlicht keine eindeutigen Antworten, und das sei in Hinblick auf die Pastoral wohl auch so gewollt: "Weder noch" statt "Ja oder Nein". Freilich lasse sich dieses Prinzip auf Dauer so nicht durchhalten, räumte Mertes ein.
Im Blick auf den weltweiten synodalen Prozess hielt der Jesuit schließlich fest: "Ich sehe die Kirche in einem langfristigen Prozess. Das ist ein Reformmarathon. Wer sprintet, verliert schnell die Kondition."
Quelle: kathpress