Vor 60 Jahren veränderte "Lumen gentium" die katholische Kirche
Wenn neuerdings katholische Bischöfe, Priester und Laien in weltweiten Synoden gemeinsam über Veränderungen in der Kirche beraten, berufen sie sich immer wieder auf ein Dokument, das vor 60 Jahren beschlossen wurde. Es hat die Idee der Kirche von sich selbst grundlegend verändert. Der Text trägt den Titel: "Lumen gentium" (Das Licht der Völker).
Beim Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965), der größten Reformversammlung der katholischen Kirche in der Moderne, verabschiedeten die Bischöfe und Kardinäle ihn am 21. November 1964 mit einer Mehrheit von 2.151 Ja-Stimmen gegen 5 Nein-Stimmen. Er ist seither gewissermaßen der gültige Grundlagentext für die innere Verfassung der katholischen Kirche.
Auch nach 60 Jahren ragt "Lumen gentium" noch immer wie ein Berggipfel aus einem Nebelmeer unzähliger kirchlicher Dokumente heraus, die sich in immer neuen Anläufen auf ihn beziehen. Ob es das "Priestertum aller Getauften" ist, das der Synodale Weg in Deutschland in vielen Beschlüssen ins Feld führt, oder die Berufung aller Mitglieder der Kirche zur Heiligkeit und zur Verkündigung des Evangeliums, die bei der jüngsten Weltsynode im Vatikan oft zitiert wurden - immer wieder ist das Schreiben der Referenzpunkt.
Nur zwei Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils wurden als "Dogmatische Konstitutionen" abgestimmt. Der eine betraf die Frage, was die göttliche Offenbarung ist und inwiefern die Bibel als Gottes Wort gelten kann. Er trägt den Namen "Dei verbum" (Das Wort Gottes). Der andere, "Lumen gentium", erklärt verbindlich, was die Kirche ist. Von beiden kann mit Fug und Recht gesagt werden, dass sie die Lehre der katholischen Kirche im 20. Jahrhundert neu definiert haben.
Heiß umstritten und sorgsam eingehegt
Doch ausgerechnet der Text über das Wesen der Kirche war - trotz der überwältigenden Mehrheit bei der Abstimmung und trotz seiner bis heute allgemein anerkannten Orientierungsfunktion - auf dem Konzil selbst heiß umstritten. Das zeigt ein ungewöhnlicher Umstand: Als einziges der 16 offiziellen Konzilsdokumente wurde er auf Geheiß von Papst Paul VI. zusammen mit einer nachgeschobenen "Note" veröffentlicht. In dieser "Nota praevia" wurde festgehalten, dass der Primat des Papstes trotz aller im Dokument beschlossenen Reformen im Kern unantastbar bleibt.
Der Text besteht also genau genommen aus einem weitreichenden Reform-Beschluss der Konzilsväter, in dem sie den Papstprimat einschränkten und das Kollegium der Bischöfe erheblich aufwerteten, und aus einem zweiten Text, der "von der höheren Autorität" - so die wörtliche Formulierung - dem Konzil diktiert wurde. Dieser zweite Teil galt als integraler Bestandteil des Beschlusses. Ohne diesen Kunstgriff hätten vermutlich deutlich mehr konservative Konzilsväter gegen "Lumen gentium" gestimmt. Denn es hätte in bis dahin unerhörter Weise die Stellung des Bischofskollegiums gegenüber dem Papst gestärkt - weshalb die Konservativen die Einheit der Kirche bedroht sahen.
Synoden sind in Lumen gentium grundgelegt
Die weltweiten Bischofssynoden, die Papst Paul VI. erstmals 1967 einberief und die in jüngster Zeit von Papst Franziskus neu gefasst und in ihrer Zusammensetzung erheblich verbreitert wurden, spiegeln bis heute das wider, was mit "Lumen gentium" grundgelegt wurde. Kirchenrechtler und Theologen fassen es gerne mit dem Begriff "cum Petro et sub Petro" zusammen. Das bedeutet: Die Synode entscheidet mit - und gleichzeitig unter dem Papst.
Dieses typisch katholische "sowohl-als-auch" von Monarchie und Mitbestimmung unterscheidet sich deutlich von den Synoden protestantischer oder orthodoxer Kirchen. Dort wählen regelrechte Kirchenparlamente mit großem Selbstbewusstsein ihre Oberhäupter und entscheiden mit Mehrheit über kirchliche Gesetze und Lehren. Der Preis für dieses Diktat der Mehrheit ist allerdings die Zersplitterung. Es gibt im radikal synodalen System der anderen Kirchen keinen Papst, der am Ende durch seine verbindliche Autorität "den Laden zusammenhält".
Ein neues Bild von den getauften Laien
Doch das Dokument "Lumen gentium" befasst sich nicht nur mit der Frage, wie die Mitsprache der Bischöfe und die Autorität des Petrus-Nachfolgers einander einschränken und ergänzen. Das zweite wichtige Thema ist die Stellung der sogenannten Laien in der Kirche. Hier versucht das Dokument, den schmerzenden Widerspruch in ihrem Inneren aufzulösen, den Martin Luther und die Reformatoren mit messerscharfer Analyse bloßgelegt hatten: Wenn alle Christen durch die Gnade des Taufsakraments "Christus gleich geworden" sind, warum haben dann nur jene, die später außerdem noch die Priesterweihe empfangen haben, die Fülle der Gnade? Und warum dürfen nur sie die Werkzeuge der Gnade - also die Sakramente - verwalten und die Kirche lehren und leiten?
Wo immer sie auf die Spitze getrieben wurde, hatte diese schwierige Frage schon in den Kirchen der Reformation weitreichende Folgen gehabt - bis hin zur revolutionären Auflösung aller kirchlichen Hierarchien bei den Wiedertäufern und anderen radikalen Strömungen. Für die Konzilsväter im Jahr 1964 war klar, dass sie neue Antworten finden mussten. Sie sollten zwar mit den weitgehenden biblischen Forderungen zu diesem Thema übereinstimmen; dennoch wollten sie die über Jahrhunderte gewachsene kirchliche Hierarchie und die auf das Priestertum angewiesene Sakramentenlehre der katholischen Kirche nicht zum Einsturz zu bringen.
Die Idee des gemeinsamen Priestertums
Wieder versuchten es die Konzilstheologen in "Lumen gentium" mit einem katholischen "Sowohl-als-auch". Einerseits, so die Lösung, partizipieren alle Christen durch die Taufe an der "priesterlichen, prophetischen und königlichen Sendung Christi". Auch jene, die nicht zum Priester geweiht sind, haben also bereits durch die Taufe Anteil am "gemeinsamen Priestertum".
Doch daneben gibt es ein besonderes Priesteramt, das mit der Rolle der "Hirten" ausgestattet ist. Die göttliche Vollmacht, in besonderer Weise im Gottesdienst "in Person Christi" zu handeln, haben nur jene, die eine Weihe erhalten haben, also die Kleriker. Und sie verwalten die Aufgaben des Verkündens, der Heiligung und der Leitung in besonderer Weise.
Es hat lange gedauert, bis das Potenzial, das in der Formulierung vom "gemeinsamen Priestertum der Getauften" enthalten ist, seine volle Wirkung in der katholischen Kirche entfaltete. In den Beratungen und Forderungen des Synodalen Wegs in Deutschland spielt es bis heute eine entscheidende Rolle und wird immer wieder zitiert. Aber auch in der jüngsten Weltsynode im Vatikan diente es zur Legitimierung von Reformideen.
Das pilgernde Gottesvolk soll mitberaten
Hinzu kam dort eine weitere Lehre, die 60 Jahre zuvor erstmals in "Lumen gentium" voll entwickelt wurde. Es ist die Idee, dass die Kirche nicht in erster Linie eine rechtlich festgefügte, unveränderbare Institution und eine Hierarchie ist, sondern ein "pilgerndes Gottesvolk". Und in dem sind alle seine Glieder - also auch die Laien - gemeinsam in der Geschichte unterwegs und machen das aus, was und wie die Kirche ist.
Papst Franziskus hat diesen Begriff seit einigen Jahren aufgenommen und kreativ erweitert. Nach seinem Willen soll das gesamte Gottesvolk mit an Entscheidungsprozessen über die Zukunft der Kirche beteiligt werden. Verwirklicht hat er dies ansatzweise dadurch, dass er zu den Versammlungen der weltweiten Bischofssynode nicht nur Bischöfe, sondern auch Laien, und mithin auch Frauen, berufen hat. Bei der jüngsten Weltsynode hat sich gezeigt, dass auch diese Lehre aus dem Dokument "Lumen gentium" noch erhebliches Potenzial hat, die Gestalt und das Leben der Kirche zu verändern.
Quelle: kathpress