Judaist Langer: Zahl orthodoxer Juden und Jüdinnen nimmt zu
Die Zahl antisemitischer Vorfälle nimmt derzeit weltweit zu, insbesondere seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober des Vorjahres. Gleichzeitig sei eine globale Stärkung orthodoxer und ultraorthodoxer Richtungen im Judentum zu beobachten, wie der Judaist und Theologe Gerhard Langer am Mittwoch im Rahmen seiner Festrede beim 19. Symposion der "Maimonides Lectures" in Wien erklärte. Eine starke religiöse Identifizierung könne als Bewältigungsstrategie dienen, um mit antisemitischen Anfeindungen umzugehen, so Langer, der sich auf aktuelle Studien zum Thema berief.
Bei den "Maimonides Lectures", einem Dialogzyklus zwischen Geisteswissenschaften und abrahamitischen Religionen, kamen am Mittwoch und Donnerstag multidisziplinäre Expertinnen und Vertreter aus Christentum, Judentum und Islam in Wien zusammen. Unter dem Titel "Die globale Renaissance des religiösen Lebens und ihre Herausforderungen" wurden gesellschaftliche Transformationen im 21. Jahrhundert und Religionen im Wandel diskutiert.
Die religiöse Landschaft habe sich im 21. Jahrhundert verändert, wie Langer im internationalen Kontext und mit Blick auf Österreich aufzeigte. Herausforderungen wie die Säkularisierung, eine Krise der katholischen Kirche aufgrund von Missbrauchsvorwürfen und steigende Kirchenaustritte stellten eine Herausforderung für die abrahamitischen Religionen dar. Das dürfe jedoch nicht den Blick auf neue Formen von Spiritualität in einer verunsichernd erlebten Welt verstellen, so Langer.
Viele jüngere US-Juden und Jüdinnen orthodox
Unter Berufung auf Untersuchungen des PEW Research Center und der Yale School of Management warf Langer zunächst einen Blick in die USA und beschrieb im Hinblick auf ihr Religionsverständnis zwei Gruppen junger US-Juden und -Jüdinnen. Insgesamt identifiziere sich etwa ein Viertel der jüdischen Erwachsenen in den USA (27 Prozent) nicht mit der jüdischen Religion, betrachte sich jedoch selbst als ethnisch, kulturell oder durch den familiären Hintergrund als jüdisch, so Langer. Gleichzeitig bezeichneten sich jüngere jüdische Erwachsene deutlich häufiger als ältere Jüdinnen und Juden als orthodox.
Unter den Jüdinnen und Juden im Alter von 18 bis 29 Jahren bezeichneten sich 17 Prozent als orthodox, verglichen mit nur 3 Prozent der Juden ab 65 Jahren. Jeder zehnte jüdische Erwachsene in den USA unter 30 Jahren sei charedischer Jude bzw. charedische Jüdin und damit den Ultra-Orthodoxen zuzurechnen (11 Prozent). Außerhalb Israels und der USA befänden sich die drei größten Charedi-Bevölkerungen im Vereinigten Königreich (etwa 75.000, d. h. 25 Prozent aller britischen Jüdinnen und Juden), in Kanada (30.000, d. h. 8 Prozent) und in Frankreich (12.000, d. h. 3 Prozent). Die weltweite Charedi-Bevölkerung werde auf 2.100.000 geschätzt, was etwa 14 Prozent der gesamten jüdischen Bevölkerung weltweit ausmache. Heute gehe ein großer Teil des Wachstums der jüdischen Weltbevölkerung auf die Charedi-Bevölkerung zurück: möglicherweise 70 bis 80 Prozent des weltweiten Gesamtwachstums, so der Theologe.
Zuwachs an Orthodoxen auch in Österreich
Das österreichische Judentum habe einen der höchsten Anteile an streng orthodoxen Juden und Jüdinnen unter allen europäischen jüdischen Gemeinschaften, erklärte Langer unter Berufung auf eine Studie des Institute for Jewish Policy Research (JPR) von 2020. Aus dieser geht hervor, dass etwa 30 Prozent der Juden und Jüdinnen in Österreich sich als "orthodox" oder "traditionell" bezeichneten, 19 Prozent als "streng orthodox", 15 Prozent als "reformiert/progressiv" und 19 Prozent als "einfach jüdisch". Etwa 78 Prozent der jüdischen Haushalte in Österreich sind durch die Mitgliedschaft in der jüdischen Gemeinde mit deren Vertretungsorganisation verbunden. Im Vergleich zu anderen Gemeinden weltweit sei dies "ein sehr hoher Grad der Zugehörigkeit".
Auch in Österreich zählen jüdisch-orthodoxe Familien zu den kinderreichsten: Streng orthodoxe jüdische Frauen haben im Durchschnitt sechs bis sieben Kinder pro Frau, während nicht streng orthodoxe jüdische Frauen typischerweise etwa zwei Kinder haben. Der Durchschnitt der österreichischen Frauen allgemein liegt bei 1,5 Kindern. Aufgrund ihrer hohen Geburtenrate sind die streng Orthodoxen der Hauptmotor des Bevölkerungswachstums der jüdischen Gemeinschaft insgesamt. Aus demselben Grund werde ihr Anteil an der jüdischen Bevölkerung mittelfristig voraussichtlich deutlich zunehmen, heißt es in der JPR-Studie. Nach internen Schätzungen leben ungefähr 12.000 Juden in Österreich, mehr als 95 Prozent davon in Wien. 8.000 haben sich der Kultusgemeinde angeschlossen.
Die jüdische Bevölkerung in Europa werde von 1,4 Millionen im Jahr 2010 auf 1,2 Millionen im Jahr 2050 schrumpfen, erklärte Langer, doch die Zahl der orthodoxen Juden und Jüdinnen steige. Dafür gebe es verschiedene Gründe: Orthodoxe heirateten überwiegend innerjüdisch, hätten eine hohe Fertilität und relativ hohe Bindungsquoten. Charedische Familien hätten im Durchschnitt sieben bis acht Kinder.
In Israel habe sich der Anteil der Charedim seit 1980 von vier auf 12 Prozent verdreifacht und dürfte bis 2040 auf über 20 Prozent ansteigen, so der Theologe unter Berufung auf aktuelle Studien. Dass gerade orthodoxe Richtungen im Judentum zunehmen, hinge auch damit zusammen, dass in einer Situation der Bedrängnis und der stetigen Notwendigkeit der Selbstvergewisserung das Bedürfnis nach einem klaren religiösen Bekenntnis stärker werde.
Quelle: kathpress