Nationalfonds-Vorsitzende: Erinnerungsarbeit braucht neue Tools
Die letzten Zeitzeugen des Holocaust verschwinden und nur wenige Opfer des Nationalsozialismus haben noch die Kraft, öffentlich oder in Schulen Aufklärungsarbeit zu leisten. Neue Formen der Gedenkkultur für junge Menschen sind gefragt, wie die Vorsitzende des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, Hannah Lessing, im Interview mit der Nachrichtenagentur Kathpress erklärte: "Wir müssen uns in unserer Erinnerungsarbeit vermehrt an jene Tools herantrauen, die die heutige Generation nutzt."
Dass Erinnerungsarbeit etwa auch auf Instagram funktioniere, zeigten Instagram-Kanäle wie @eva.stories oder @ichbinsophiescholl, der das Leben der Widerstandskämpferin Scholl ins Heute holt. "Evas Storys" erzählt unter dem Motto "Was, wenn ein Mädchen im Holocaust Instagram gehabt hätte?" die Geschichte eines in Auschwitz ermordeten 13-jährigen Mädchens aus Ungarn und basiert auf wahren Gegebenheiten.
"Was hat das mit mir zu tun?"
Erinnerungsarbeit müsse immer ans Heute anknüpfen, denn "ohne Bezug zur Gegenwart ist die Beschäftigung mit der Vergangenheit ein leeres Gedenken", so Lessing. In der Aufklärungsarbeit habe man sehr viel über die Vergangenheit gesprochen. "Was wir verabsäumt haben, ist, einen Zusammenhang zum Heute herzustellen", räumte die Nationalfonds-Direktorin ein. Dies sei insbesondere für junge Menschen wichtig. Niemand werde als Rassist oder Antisemit geboren, so Lessing. Es sei eine Frage der "sozialen Erziehung".
Vor dem Hintergrund der US-Wahlen, des Gazakriegs, der weltweiten bewaffneten Konflikte und eines politischen Rechtsrucks in Europa müssten jüngere Generationen verstehen, was im Zweiten Weltkrieg passiert ist, um die Zeichen der Zeit zu erkennen. "Auch wenn jemand sagt: 'Aber ich bin ja kein Jude. Was hat das mit mir zu tun?'" Jungen Menschen müsse klargemacht werden, dass es damals wie heute antidemokratisch ist, "wenn wir gegen Minderheiten vorgehen und Menschen ins Eck stellen".
In einem neuen, vom Nationalfonds geförderten Schulprojekt besuchen Nachkommen der Opfer des Nationalsozialismus Schulen, um über ihre Erlebnisse zu sprechen. Auch Lessing ist Teil dieses Projekts: "Ich kann ihnen erzählen, wie ich gelebt habe und warum die Erinnerung fürs Heute wichtig ist." Die Kinder der Überlebenden könnten an heutige Probleme anknüpfen und für die Jugendlichen oft "zugänglicher" Vermittler zwischen Vergangenem und Aktuellem sein, hob Lessing positiv hervor.
Gedenkdienst statt Wehrpflicht
Eine Möglichkeit, wie sich Jugendliche selbst an Erinnerungsarbeit beteiligen können, bietet der Nationalfonds durch die Vergabe von Gedenkdiensten, die anstelle eines Zivil- oder Militärdienstes geleistet werden können. Auch Mädchen können sich für einen solchen Dienst melden, der sie auf Wunsch in verschiedene Länder führt: ins Memorial Museum in Washington, ins Melbourne Holocaust Museum, zur Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem oder nach Auschwitz. Dort arbeiten die Jugendlichen etwa in Archiven oder können Führungen für deutschsprachige Gäste übernehmen. Die finanzielle Unterstützung durch den Nationalfonds beträgt um die 400 Euro. Die Basiszahlung wird vom Sozialministerium entrichtet.
Eine lebendige Gedenkkultur ist auch für betroffene Kinder und Enkel essenziell, so Lessing weiter. Denn die Gräueltaten, die die Opfer des Nationalsozialismus erdulden mussten, rückten mit zeitlichem Abstand nur scheinbar in die Ferne. Längst habe die Forschung bewiesen, dass Traumata transgenerational weitergegeben werden können und Nachkommen schwer belasten. Mit der Instandsetzung von mehr als 60 jüdischen Friedhöfen, der Ausstellung "Entfernung. Österreich und Auschwitz" im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau sowie der "Shoah Namensmauern Gedenkstätte" im Wiener Ostarrichipark schuf der Nationalfonds Orte der Erinnerung.
"Verfechterin von Erinnerungskultur"
Auch Lessing besucht jene Stätten, um der Verstorbenen, insbesondere ihrer Großmutter zu gedenken, die in Auschwitz ermordet wurde und deren Name auf der "Shoah-Namensmauer" steht. Für die Nationalfonds-Vorsitzende ist Erinnerungsarbeit zur Lebensaufgabe geworden, auch weil sie bis zu ihrer Schulzeit nichts von ihrer jüdischen Herkunft wusste. "Wie gedenkt man, wenn man mit Schweigen aufgewachsen ist? Ich denke, darum bin ich eine Verfechterin von Erinnerungskultur geworden."
Schon Ende der 1970er Jahre hat Lessing aktiv an der in Österreich damals erst langsam einsetzenden Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs mitgewirkt. Als 15-Jährige verkörperte sie in der Serie "Holocaust - Die Geschichte der Familie Weiss" ein junges jüdisches Mädchen, das von den Nationalsozialisten in den Gaskammern ermordet wurde. "Zwanzigmal habe ich den Tod meiner Großmutter nachgestellt", erzählte sie über die Dreharbeiten in der noch existenten Gaskammer in Mauthausen.
Als die Serie 1979 im ORF ausgestrahlt wurde, führte sie vielen Österreicherinnen und Österreichern zum ersten Mal die erschütternden Details des Holocaust vor Augen, über die zuvor geschwiegen worden war. Viele Reaktionen in Österreich seien ablehnend gewesen. "In Deutschland wurden sogar drei Fernsehmasten gesprengt, damit die Serie nicht ausgestrahlt werden kann", erzählte Lessing, die sich seither in verschiedenen Positionen der Erinnerungsarbeit widmet. Seit Gründung des Nationalfonds im Jahr 1995 war sie bis 2024 Generalsekretärin der Einrichtung, die sie heute leitet. Seit 2011 ist Lessing die österreichische Repräsentantin des Komitees der Stiftung Auschwitz-Birkenau. Zudem ist sie Vorstandsmitglied im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands.
"Es gibt keine Wiedergutmachung"
Die Erinnerungsarbeit hat auch ihre Grenzen, wie Lessing aus persönlicher Erfahrung weiß. Bei der Übernahme des Nationalfonds habe sie ihren Vater gefragt, was er von einer Beamtin 50 Jahre nach dem Krieg erwarte. "Kannst du mir meine Kindheit zurückgeben? Kannst du mir meine Mutter aus Auschwitz zurückholen?", antwortete dieser nach langem Überlegen. "Was er mir sagen wollte? Es gibt keine Wiedergutmachung. Aber es ist nie zu spät, Opfern ihren Namen zurückzugeben", fuhr Lessing mit Verweis auf Arbeiten des Nationalfonds fort, die auch jahrzehntelang verschwiegener Opfergruppen gedenken.
Nachdem 2023 das Denkmal zur Erinnerung an homosexuelle NS-Opfer im Wiener Resselpark enthüllt worden war, wurde der Nationalfonds 2024 mit dem Bau einer Gedenkstätte für die verfolgten und ermordeten Roma und Sinti beauftragt. Nach einer Gesetzesänderung im heurigen Jahr wurde die Einrichtung mit vielen neuen Aufgaben beauftragt: "Wir arbeiten jetzt viel mehr mit Nachkommen von Opfern und helfen beispielsweise bei Familienrecherchen oder Fragen der Staatsbürgerschaft", erklärte Lessing. Zudem bemühe man sich um internationale Austauschprogramme für Jugendliche.
Die Arbeit des Nationalfonds werde "noch weit in die Zukunft reichen". "Ich fürchte, eine Zeit, in der es den Nationalfonds nicht mehr braucht, wird es nicht geben", resümierte Lessing mit einem Zitat Ingeborg Bachmanns: "Die Geschichte lehrt uns, aber sie findet keine Schüler." Dennoch müsse man mit der Erinnerungsarbeit weitermachen und versuchen, aus der Geschichte für die Zukunft zu lernen.
Quelle: kathpress