Theologe: Kirche braucht Weltzugewandtheit der Propheten
Gegen die "dramatische Erosion der sogenannten Volkskirche" in Europa hilft nicht die sektenhafte Abschottung traditionalistischer und spiritualistischer Strömungen des Christentums; notwendig wäre vielmehr eine Weltzugewandtheit und Diesseitsorientierung, wie sie die Propheten der Bibel zeigten. Das erklärte der an der Uni Wien lehrende Philosoph und Theologe Hans Schelkshorn im Interview der Kooperationsredaktion österreichischer Kirchenzeitungen (aktuelle Ausgaben; Donnerstag) über die Frage, wie es um die Zukunft des Christentums in Europa bestellt ist.
Die seit langem zu beobachtende Krise der Kirchen liege nur zum Teil an strittigen Themen wie Mitbestimmung der Laien oder Sexualmoral, sagte der Vorstand des Instituts für interkulturelle Religionsphilosophie. Diese Fragen seien "ohne Zweifel wichtig" und hätten in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Menschen, insbesondere Frauen, wegen ausbleibender Reformen auf Distanz zur katholischen Kirche gehen lassen. "Doch die Krise des Christentums hat weitaus tiefere Gründe", verwies Schelkshorn auf die mangelnde Plausibilität zentraler Glaubensinhalte wie z. B. des Bekenntnisses zu Jesus als Sohn Gottes oder des stellvertretenden Sühnetodes Jesu. Beides sei heute auch für Christinnen und Christen "keineswegs selbstevident". Die Zweifel und die Kritik am Christentum aus der Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert hätten inzwischen auch das sogenannte Kirchenvolk erfasst.
Reich Gottes nicht nur im Jenseits
Auf die Frage, wie das Christentum in Europa zukunftsfähig sein kann, antwortete Schelkshorn, es bedürfe einer "radikalen Rückbesinnung auf das Erbe der Propheten, das von Jesus in der Botschaft von der Ankunft des Gottesreiches aufgegriffen wird". Das Augenmerk liege dabei auf sozialer Gerechtigkeit hier auf Erden, auf der Überwindung von Ausbeutung und Knechtschaft, dem Dienst an den Armen, Witwen und Waisen, der Zuwendung zu den Hungernden, Dürstenden und Nackten. "Von kultischen Pflichten oder gar Dogmen ist hier keine Rede", so der Theologe. Auch säkular gesinnte Bürgerinnen und selbst hartgesottene Atheisten würden den Dienst an den Armen unmittelbar als christliches Zeugnis wahrnehmen.
Die Bedeutung des Reiches Gottes sei seit den Kirchenvätern jedoch "immer wieder einseitig in das Jenseits verlegt worden", kritisierte der Theologe. Dabei spreche Jesus das Reich Gottes vor allem den Armen zu und Christen würden im Vaterunser beten: "Dein Reich komme, ... wie im Himmel, so auf Erden." Dies bedeutet laut Schelkshorn: Die Hoffnung auf die Auferstehung sprenge zwar die Grenzen des Irdischen, das Christentum sei jedoch keine Religion der Weltverachtung, der Weltflucht oder der Vertröstung auf das Jenseits.
Suche nach statt Pochen auf Wahrheit
Als weitere "zentrale Herausforderung" erachte er, dass dogmatische Wahrheitsansprüche im modernen Europa entweder auf strikte Ablehnung oder aber auf Gleichgültigkeit stießen. Schon der Philosoph Karl Jaspers habe bereits Mitte des 20. Jahrhunderts die Hoffnung auf eine grundlegende Wandlung des europäischen Christentums artikuliert: Dessen Gemeinden sollten zu Orten der "gemeinsamen Suche nach einer zeitgemäßen Auslegung des Christentums" werden.
Doch die christlichen Kirchen seien heute "innerlich zerrissen", bedauerte Schelkshorn. Konservative und liberale Gläubige würden einander vorwerfen, die Kirche zu zerstören. In den letzten Jahrzehnten seien "zwei extreme Strömungen mächtig geworden": Einerseits versuchten traditionalistische Kreise eine bestimmte historische Gestalt der Kirche für alle Zukunft zu zementieren, andererseits beriefen sich spiritualistische Erweckungsbewegungen auf eine unmittelbare persönliche Offenbarung. Beide Strömungen verweigern sich laut dem Theologen einer kritischen Auseinandersetzung mit den geistigen Herausforderungen der gegenwärtigen Moderne, die die Fähigkeit zu Dialog und Kritik erfordere, und zeigten "eine äußerst bedenkliche Besitzergreifung des göttlichen Geheimnisses".
Gegen Strategie der Abschottung
Auf diese Weise drohe das Christentum zu einer Sekte zu werden, warnte Schelkshorn. Eine solche Strategie der Abschottung widerspreche zudem fundamental der Geschichte des europäischen Christentums, das "sich selbst immer wieder neu ausgelegt hat". Selbstghettoisierung habe auch gesellschaftspolitische Folgen: "Wer eine kritische Auseinandersetzung mit seinem Glauben umgeht, ist auch an öffentlichen politischen Debatten wenig interessiert. In zahlreichen Ländern sympathisieren sowohl traditionalistische als auch spiritualistische Christ:innen mit rechtspopulistischen und autoritären politischen Parteien."
Prof. Schelkshorn referiert im November und Dezember im Rahmen einer Vortragsreihe an der Wiener "Akademie am Dom" über die Zukunft des Christentums. Alle Veranstaltungen können auch online besucht werden. (Infos: www.akademie-am-dom.at)
Quelle: kathpress