Sozialethiker: US-Wahl zeigt "massives Versagen der Christen"
Die US-Präsidentenwahl offenbart nach Ansicht des Grazer Sozialethikers Kurt Remele "ein massives Versagen der Christinnen und Christen in den USA, allen voran der protestantisch-evangelikalen und der rechtskonservativ-katholischen". Die Wiederwahl Donald Trumps sei - bei allen anderen Gründen, die es dafür gebe - auch durch die christlichen Kirchen in den USA ermöglicht und gefördert worden - auch durch den katholischen Episkopat. Die Ernennungen von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. habe die US-Bischofskonferenz "zunehmend rechtskonservativ, reaktionär und teilweise sogar christlich-nationalistisch" gemacht.
Papst Franziskus habe "liberalere" Bischöfe und Kardinäle ernannt, die anders als ihre Amtskollegen Abtreibung nicht als "preeminent priority" - vorrangiges Thema - der Wahl betrachteten "und damit quasi eine Wahlempfehlung für Trump abgaben", so Remele am Donnerstag im Interview mit der Nachrichtenagentur Kathpress. Franziskus selbst habe eine solche Hervorhebung der Abtreibung vor allen anderen gesellschaftspolitischen bzw. ethischen Fragen zwar als "ideologisch" verurteilt. Seine Bemerkung bei einer "fliegenden Pressekonferenz" im September, man müsse bei der US-Wahl zwischen zwei Übeln das kleinere wählen, "war aber alles andere als hilfreich und ethisch-theologisch viel zu undifferenziert", kritisierte der Grazer Theologe, der in den USA studierte und mehrfach Lehraufträge im angloamerikanischen Raum innehatte.
Von den US-Bischöfen hätte sich Remele erwartet, den Charakter Trumps, "sein aus ethischer Sicht furchtbares, abstoßendes, frauen-, demokratiefeindliches Denken, Reden und Verhalten", zu problematisieren. "Kann jeder Gangster die Unterstützung katholischer Bischöfe erhalten, sobald er bereit ist, Frauen, die abtreiben, ins Gefängnis zu werfen?", empörte sich Remele. "Gibt es im Katholizismus keine Tugendethik mehr?"
Für die zweite Amtsperiode Trumps - erstmals kommt ein gerichtlich verurteilter Straftäter ins Weiße Haus - erwartet der früher am Grazer Uni-Institut für Ethik und christliche Gesellschaftslehre lehrende Theologe nichts Gutes. Er erinnerte mit Blick auf eine der ältesten Demokratien der Welt an einen Satz, den Norbert Hofer einst im österreichischen Präsidentschaftswahlkampf sagte: "Sie werden sich noch wundern, was alles möglich ist."
Die aus seiner Sicht unrühmliche Rolle der christlichen Kirchen im US-Wahlkampf werde zur Folge haben, dass sich junge, aufgeschlossene, menschen- und umweltfreundliche Amerikanerinnen und Amerikaner in Zukunft noch stärker als bisher von den Kirchen abwenden werden. Die Gruppe der keiner Glaubensgemeinschaft angehörigen "Nones" sei schon jetzt die zweitstärkste "religiöse" Gruppe in den USA und die am stärksten anwachsende, sagte Remele. Dieser Trend werde sich weiter verstärken.
Theologe Weiß: Religion war nachrangiges Wahlmotiv
"Aus der Wahl wird eine Erwählung": So kommentierte der Salzburger Theologe und US-Kenner Andreas Weiß die Reaktionen nach dem Sieg Donald Trumps beim Kampf ums Weiße Haus. Der überraschend klare Ausgang der Wahl werde von Trumps Anhängerschaft religiös gedeutet, er selbst habe in seiner Siegesrede von der Notwendigkeit einer "Heilung" der Nation gesprochen und dabei vermittelt, dass nur er diese Heilung bewirken könne - ein aus europäischer Sicht schwer nachvollziehbarer Ausblick nach dem polarisierenden Agieren des Republikaners, wie Weiß am Donnerstag im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Kathpress anmerkte.
Der Direktor des Katholischen Bildungswerks Salzburg hält religiöse Motive für die Wahlentscheidung der US-Amerikaner dennoch für zweitrangig; viel stärker im Vordergrund seien wirtschaftliche Gründe gewesen. Vertreter der religiösen Gemeinschaften hätten zwar wie auch sonst oft Lebensschutzfragen in den Vordergrund gerückt, so auch die katholischen Bischöfe, aber auch die Katholikinnen und Katholiken seien in der Frage der Abtreibung uneins, so Weiß.
Anders als etwa in Österreich und anderen Ländern Europas würden sich in den USA Religionsvertreter nicht als Verteidiger demokratischer Standards in der Öffentlichkeit exponieren. Einzelne Pastoren gäben sogar klare Wahlempfehlungen. Das hat laut dem Experten mit der unterschiedlichen religionspolitischen Geschichte zu tun: In den USA herrsche seit deren Gründung eine starke Trennung von staatlichen und religiösen Instanzen vor, was den Kirchen auch mehr politische Freiheiten biete. In Europa habe es lange Staatskirchentum gegeben, von dem sich die Kirchen erst allmählich lösten - bis hin zur heute üblichen politischen Zurückhaltung und dem bewussten Verzicht auf parteipolitische Schulterschlüsse.
Die Entwicklung der Demokratie in den USA, aber auch in anderen westlichen Staaten betrachtet Weiß mit Sorge. Zwar gebe es in den Staaten etablierte Standards, aber Trump habe mehrfach verdeutlicht, dass er diese nicht respektiert. Und seine neue Machtfülle mit republikanischer Dominanz in Kongress und Supreme Court werde der Wiedergewählte wohl auch ausspielen - etwa durch Niederschlagung der Prozesse gegen ihn, durch Begnadigungen, erleichtert durch den Höchstgerichtsentscheid, dass US-Präsidenten für offizielle Handlungen im Amt vor Strafverfolgung geschützt sind. Trumps Wiederwahl sei auch Wasser auf die Mühlen jener Politiker in Europa, die auf populistische Kampfrhetorik und auf Angstmacherei setzen, befürchtet Weiß.
Von Einheit "Lichtjahre entfernt"
In einem Beitrag für "Die Furche" (7. November) zeichnete Weiß die USA als anhaltend polarisiert: "Die öffentliche Stimmung im Land gleicht nach diesen Wahlkampfwochen einem Schlachtfeld." Der Salzburger Theologe erinnerte an "e pluribus unum" (dt. etwa: aus Vielfalt Einheit schaffen) als eine der Kernfloskeln amerikanischer Identität aus der Zeit der Gründerväter im 18. Jahrhundert und auch an die berühmte Abschiedsrede Ronald Reagans 1989, in der dieser mit dem biblischen Bild der "Stadt auf dem Berg" (Mt. 5,14) die innere und äußere Geschlossenheit der Nation beschwor. Von dieser Vision seien die heutigen USA "Lichtjahre entfernt".
Auch der Innsbrucker Bischof Hermann Glettler kommentierte den US-Wahlausgang - wenn auch ohne Worte: Auf seinem Instagram-Account postete er das KI-generierte Bild der sitzenden Freiheitsstatue, die sich angesichts der Entscheidung an den Kopf greift. Als Hashtags schrieb Glettler u.a. #demokratie #trauer darunter.
Quelle: kathpress