Theologe: Mit Kultur des Erbarmens gegen "Übertribunalisierung"
Eine "Kultur des Erbarmens und des Verzeihens" wäre ein geeignetes Heilmittel gegen "die Gnadenlosigkeit einer übertribunalisierten Lebenswelt". Diese These hat der Wiener reformierte Theologe Ulrich Körtner in Beiträgen in der sowie auf dem Online-Portal "communio.de" zum Reformationstag am 31. Oktober ausgeführt. Er erinnerte darin an die vor 25 Jahren unterzeichnete "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre". Mit der Erklärung hatten Vertreter der römisch-katholischen Kirche und der lutherischen Kirche ein Streitthema, an dem die Einheit der abendländischen Christenheit zerbrach, im Wesentlichen beigelegt.
"Man könnte auch sagen: Das Streitthema Rechtfertigung lockt niemanden mehr hinter dem Ofen hervor" - jedoch zu Unrecht, wie Körtner meinte. Denn die protestantische Überzeugung von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade und allein durch den Glauben könnte eine "entscheidende Ressource" in einer auf Beurteilung und Verurteilung ausgerichteten Kultur sein. Nach Ansicht der jüdischen Philosophin Hannah Arendt sei es Jesus von Nazareth gewesen, der die Bedeutung des Verzeihens für den Bereich menschlicher Angelegenheiten entdeckte. "Ist es nicht das, was unsere Welt so nötig braucht: eine Kultur des Verzeihens und des Erbarmens?", fragte der an der Uni Wien lehrende Theologe.
Körtner machte darauf aufmerksam, dass "sich das Gottesbild seit der Aufklärung radikal gewandelt hat": Die Rechtfertigungslehre, die Martin Luther in Konflikt mit der römischen Papstkirche brachte, gehe davon aus, dass Menschen nie dem Anspruch gerecht werden, den Gott an sie stellt. Die Reformatoren sagten, dass man diesem Anspruch nicht durch gute Taten gerecht werden könne, sondern dass man auf Gottes Gnade vertrauen müsse.
Mit Sünde auch Gnade abhanden gekommen
Die zur Reformationszeit hochrelevante Vorstellung vom Jüngsten Gericht, die Frage nach dem gnädigen Gott und die Angst vor Sündenstrafen seien verblasst, schrieb Körtner. Im Vordergrund stehe heute das Theodizeeproblem - also die Frage, ob Gott gerecht ist, wenn er all das Böse auf der Welt zulässt. "Gott steht unter Anklage." Oder aber es werde seine Nichtexistenz behauptet: "Ein Gott, der nicht existiert, kann auch nicht schuld an den Übeln der Welt sein." Nun sei der Mensch selbst Richter und Angeklagter zugleich. "Weil Gott fehlt, tritt an die Stelle der Rechtfertigung des Menschen eine Unkultur des Rechthabens", zitierte der Theologe den Schriftsteller Martin Walser.
Die "Tribunalisierung, um nicht zu sagen Übertribunalisierung, der modernen Lebenswirklichkeit" zeige sich bis hinein in die Alltagswelt und Medienkultur. Körtner nannte als Beispiel die Gerichtsshows und öffentlichen Lebensbeichten im Privat-TV, die zeigten, dass im "modernen Weltgericht" jeder Ankläger, Richter und Angeklagter zugleich sei. "Mit dem religiösen Begriff der Sünde ist der modernen Welt auch die Dimension der Gnade abhanden gekommen." Der Mensch als Letztverantwortlicher und Angeklagter könne auf keine Instanz hoffen, die ihn freispricht. Dem stehe die christliche Überzeugung eines Gottes gegenüber, "der die Feindschaft des Menschen überwindet und ihn um Christi willen trotz seiner Sünde bedingungslos annimmt und somit anerkennt".
Glaube ist "kein Rückzug aus dieser Welt"
Wolfgang Rehner, Superintendent der Evangelischen Kirche in der Steiermark, hob in einem Beitrag zum Reformationstag in der "Kleinen Zeitung" (31. Oktober) hervor, dass christlicher Glaube "kein Rückzug aus dieser Welt" ist. Die Reformation sei eine Bewegung der persönlichen Ermächtigung gewesen, die die Christenmenschen aufrief, im "stillen Kämmerlein" alle Anliegen im Gebet vor Gott zu bringen - "ohne Fürsprache von dritter Seite". Das von Martin Luther geprägte Sprachbild des "stillen Kämmerleins" mache den Glauben nicht zur Privatsache, betonte Rehner. Es ermutige vielmehr, "Gott zu bitten um die kleinen wie um die großen Dinge": für die Ehe, die Familie, aber auch für Einsicht bei den Mächtigen in Politik und Wirtschaft und um Frieden.
Zugleich sei die Reformation eine Bewegung, die den Wert von Beteiligung und Zugehörigkeit herausgestrichen habe. Als Mitglied der Kirche mitreden und mitbestimmen dürfen, gehöre zu den Grundlagen der reformatorischen Kirchen. Der Superintendent wandte sich direkt an sein Lesepublikum: "Du bist Teil des großen Ganzen, das in Gott seinen Ursprung und sein Ziel hat. Du bist ermächtigt, als Christenmensch deinen Glauben in direkter Beziehung zu Gott zu leben." Am Reformationstag solle diese Botschaft neu buchstabiert werden.
Quelle: kathpress