Theologe: "Jesus ist alles andere als harmlos"
Das revolutionäre Potenzial des Christentums hat der Wiener BIbelwissenschaftler Markus Tiwald im Interview mit der Wiener Kirchenzeitung "Der Sonntag" betont. "Jesus ruft nicht zu einer Revolution der Waffen, sondern der Werte auf", so Tiwald. Jesus sei damit freilich alles andere als harmlos. Tiwald würdigt im Interview das Bemühen von Papst Franziskus, die Kirche wieder stärker zu ihrer jesuanischen Ursprünglichkeit zurückzuführen und betont die jüdischen Wurzeln des Christentums.
Zur Frage, ob die Kirche Begegnungen mit Jesus fördere oder blockiere, meinte der Exeget: "Wahrscheinlich beides zugleich." Tiwald verwies auf den Soziologen Max Weber und dessen Verweis auf drei Stufen einer Institutionswerdung. Die erste Stufe seien die charismatischen Anfänge am Beginn. Die zweite Stufe meine dann die Institutionalisierung des Charismas, "das lebendige Charisma Jesu ist dann irgendwann zu einer kirchlichen Institution geworden". Das sei noch nicht problematisch, denn die Institutionswerdung sei nichts Negatives: "Das lebendige Charisma würde verdunsten, wenn es nicht bewahrende Strukturen gäbe."
Problematisch sei die dritte Stufe, nämlich die Frage: "Ermöglicht eine Institution dem Charisma, sich frei zu bewegen? Oder engt es das Charisma ein?" Er finde es bei Papst Franziskus als sehr schön, so Tiwald, "dass er diesen Weg zurück zur Lebendigkeit des Anfangs gehen möchte. Manches mag beim Papst vielleicht ein bisschen hemdsärmelig oder unkonventionell erscheinen, aber in einer Zeit, in der Politikerinnen und Politiker nur strikt nach ihrem Skript reden, bin ich sehr froh darüber, dass es einen gibt, der manches Mal so frisch von der Leber weg redet." Damit gewinne der Papst auch ein kleines Stück dieser jesuanischen Ursprünglichkeit der Kirche zurück.
Mitfühlende Kirche
Franziskus bemühe sich, den Blick von der Sexualmoral wegzuwenden, hin auf eine arme, sich erbarmende und mitfühlende Kirche. Und damit treffe er den unmittelbaren Markenkern Jesu, "denn auch Jesus hat niemanden ausgegrenzt". Alle hätten bei Papst Franziskus einen Heimatort in der Kirche, so Tiwald: "Und das deckt sich stark mit der Praxis Jesu, der keine Angst hatte vor Berührungen mit Aussätzigen, mit Sündern, mit Huren, mit Zöllnern. Alle berührte er, um sie anzustecken mit der Liebe und mit der Barmherzigkeit Gottes."
Jesus sei freilich alles andere als harmlos. Tiwald: "Jesus ruft nicht zu einer Revolution der Waffen auf, sondern einer Revolution der Werte. Er möchte keinen Umsturz mit Gewalt herbeiführen." Überall dort, wo Religion machtpolitisch an den Hebeln sitzt, werde es deshalb auch problematisch und gefährlich. "Aber die von Jesus vermittelten neuen Werte führen dann dazu, dass Menschen anders handeln. Dies führt dann auch zu einer Veränderung der politischen Strukturen."
Als konkrete jesuanische Werte nannte der Bibelwissenschaftler an erster Stelle die Geschwisterlichkeit, "also dass man neu auf den Menschen zugeht". Und: "Die Werte des Integrierens aller Menschen, auch derjenigen, die am Rand stehen. Bei Jesus ist die Option für die Armen besonders stark ausgeprägt. Und zwar Armut nicht nur im finanziellen Sinne, sondern auch Armut im Vorzeichen der Ausgrenzung." Das decke sich wieder mit Papst Franziskus, der dazu auffordere, an die Ränder der Gesellschaft zu gehen, so Tiwald. Er verwies zugleich aber auch auf Papst Johannes Paul II., der dazu aufrief, eine "Zivilisation der Liebe" zu schaffen.
Jesus der Jude
Auf die jüdischen Wurzeln des Christentums angesprochen, betonte Tiwald: "Es gibt keinen christlichen Glauben ohne den Glauben an Jesus als Juden. Wenn wir die jüdischen Wurzeln Jesu abschneiden - und oftmals haben wir das ja im Laufe der Kirchengeschichte unternommen -, dann haben wir einen verfälschten Jesus."
Seine Forschungen reichten auch sehr stark in die Judaistik hinein, "nämlich wie das Frühjudentum der damaligen Zeit, in dem und aus dem heraus Jesus gelebt hat", so Tiwald. In diesen Forschungen werde ihm immer mehr bewusst, so Tiwald, "dass das beginnende Christentum und das spätere rabbinische Judentum sich mehr oder weniger parallel aus dieser gemeinsamen Wurzel des Frühjudentums heraus entwickelt haben". Nachsatz: "Wenn wir diese Wurzeln kappen, dann hätten wir den historischen jüdischen Jesus verloren." Und: "Es wäre auch theologisch tragisch, weil der Haftpunkt unserer eigenen Christologie bereits im Judentum grundgelegt worden ist."
Quelle: kathpress