Bestsellerautor Stutz: Nächstenliebe braucht Selbstachtung
Dass Nächstenliebe nicht ohne Selbstfürsorge auskommt, hat der Bestsellerautor und frühere katholische Priester Pierre Stutz am Freitag im Abschlussvortrag der "Internationale Pädagogische Werktagung" in Salzburg betont. "Wo Menschen vergessen, für sich selbst zu sorgen oder die eigenen Brüche im Leben zu bearbeiten, dann steht viel mehr an der Kippe als ein Gefühl der Zufriedenheit", zeigte sich Stutz überzeugt. "Nur in der heilenden Zuwendung zu sich selbst, kann die Energie für die Hinwendung zu Gott und die Mitmenschen gefunden werden", sagte der bekennend homosexuelle 70-Jährige, der nach seinem Outing 2002 das Priesteramt niederlegte und heute als Referent für Spiritualität und Autor tätig ist.
"Nur wenn man die Änderungen im eigenen Dasein in das Welt- und Menschenbild integrieren kann, ist ein produktives Verhältnis zu anderen Personen möglich", erklärte Stutz bei dem Vortrag auch unter Verweis auf seine eigene Biografie. Deshalb sei es unerlässlich, dass die Selbstachtung mit der Nächsten- und Gottesliebe in einer dauernden Beziehung steht.
Die vom Katholischen Bildungswerk Salzburg in Kooperation mit Caritas, Universität Salzburg und Pädagogischer Hochschule Salzburg veranstaltete Pädagogische Werktagung stand heuer unter dem Leitwort "Veränderungen - annehmen. gestalten. begleiten". Die Konferenz, bei der sich seit Mittwoch in Salzburg mehrere Hundert Teilnehmende interdisziplinär mit Fragen der Pädagogik und Erziehung beschäftigten, gilt als eine der wichtigsten pädagogischen Fachtagungen im deutschsprachigen Raum. In zahlreichen Vorträgen und Arbeitskreisen wurde auf Wandel und die damit verbundenen menschlichen und pädagogischen Aspekte hingewiesen.
"Der Mensch lernt in Beziehungen"
Weitere Redner am Abschlusstag waren am Freitag der Heidelberger Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs sowie die Südtiroler Erziehungswissenschaftlerin Iris Nentwig-Gesemann. Letztere plädierte unter anderem dafür, von der klassischen Architektur von Bildungsräumen "für Kinder" zu einem Ortswechsel zu kommen - konkret zur Nutzung von Naturräumen und "Draußen-Orte". Kinder erlebten diese als "faszinierende, herausfordernde und zugleich bedeutungsvolle Entdeckungsumgebungen", so die Fachpädagogin. Lernverhalten, interaktive Bereitschaft und ungeleitete Offenheit für das Naturerforschen seien durch den Raumwechsel gezielt verändert. "Der Naturraum ändert das Lernerlebnis, es kommt zu einem personal-naturbezogenem Resonanzgeschehen, in dem die Kinder in einen multiperspektivischen Interaktionsprozess mit der Natur, den Gleichaltrigen Kameraden sowie der Lehrpersonen eintauchen", unterstrich Nentwig-Gesemann.
Auf die Bedeutung von Lernen in Beziehungen und soziale und familiäre Weltaneignung als entwicklungsbiologisches Fundament wies Fuchs hin. "Der Mensch lernt im Wesentlichen in Beziehungen", betonte der Psychiater und Philosoph. Während der Prozess menschlicher Welt- und Wissensaneignung über Jahrhunderte hinweg als theoretische Einbahnstraße interpretiert und der lernende Mensch als passiver Rezipient betrachtet worden sei, könne man heute interaktive Elemente des Lernens aus Forschung, Praxis, Ansätzen und Methoden nicht mehr wegdenken. "Lernen ist kooperatives Erarbeiten, intersubjektives Beziehungsgeschehen und individuelles Erkunden. Das Teilen von Absichten, Emotionen, Zielen und Handlungen ist dem Menschen sprichwörtlich in die Wiege gelegt", so der Heidelberger Experte.
Kritisch beleuchtete Fuchs vor diesem Hintergrund die intensive Nutzung moderner Medien. Die "soziale Räumlichkeit" moderner und modernster Technologien sei eben keine reale Räumlichkeit, die intensive Mediennutzung könne gerade nicht als soziales Interagieren gesehen werden und sei eine enorme Herausforderung für das menschliche Lerngeschehen. Moderne Pädagogik aber müsse das motorische Erleben, interaktive Geschehen und räumliche Gegenwart stark machen.
Dies sei kein Aufruf dazu, digitale Medien aus dem Schul- und Lernalltag zu verbannen, hielt Fuchs gleichzeitig fest, sondern für eine differenzierte Integration dieser neuen Technologien, ohne die analogen, körperlichen und motorischen Fundamente zu ignorieren. Eine Pädagogik, die der gesunden Entwicklung des Kindes verpflichtet ist, könne die körperliche, sensomotorische Dimension menschlichen Lernens, die sozialen und interaktiven Momente der Entwicklung nicht ausklammern. Methoden, Ansätze und moderne Lehrpläne müssten sich an diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren.
Herausforderung Influencer
Schon am Donnerstag waren die Sozialen Medien bei der Pädagogischen Werktagung Thema gewesen. Die beiden Podcaster und Autoren Wolfgang M. Schmitt und Ole Nymoen setzten sich kritisch mit dem Phänomen der "Influencer" auseinander. Problem sei grundsätzlich nicht die digitale Welt oder die technischen Möglichkeiten, sondern der nicht zuletzt ideologische, kapitalistische, konsum- und schönheitsfixierte Umgang damit, in dem sich Machtstrukturen oder Manipulationsspiralen reproduzieren, erklärte Schmitt.
Kritische Medienkompetenz und die Förderung analoger sozialer Austauschmöglichkeiten müssten von Kindheit an gezielt gefördert werden, skizzierten die Experten einen möglichen Ausweg. Nötig sei eine Pädagogik, die den Menschen die Grenzen ihrer digitalen Räume und Kommunikationsmöglichkeiten aufzeigt und mit Gefahren und Sackgassen vertraut macht. Nymoen ergänzte: "Es geht dabei nicht um eine Verteufelung der Medien, sondern um eine gezielte Sensibilisierung."
Resilienz als "Kraft der Veränderung"
Der Salzburger Mediziner und Experte für Kinder- und Jugendheilkunde Leonhard Thun-Hohenstein widmete sich in einem weiteren Hauptvortrag der Konferenz der menschlichen Resilienz als "Weg und Kraft der Veränderung", um Herausforderungen und Krisen zu bewältigen. Resilienz entstehe im Zusammenspiel innerer und äußerer Faktoren, "sie wirkt sich auf den einzelnen Menschen, aber auch auf die sozialen Beziehungen und Strukturen aus", verdeutlichte Thun-Hohenstein. Resilienz führe zum Handeln, zu sozialem Engagement und ermögliche die Ausprägung neuer Lebensweisen und sogar ganz neue Aufbauformen von Organisationen, Gemeinden und politischen Gesellschaften. "Eine Gemeinschaft resilienter Menschen wird auf Probleme, Krisen und Herausforderungen ganz anders reagieren als statische Gefüge, die sich in solchen Zeiten abschotten, zurückziehen oder in eine fatalistische Lethargie verfallen", sagte der Experte.
Die Frankfurter Erziehungswissenschaftlerin Johanna Wilmes erschloss das Leitwort "Veränderung" der Salzburger Fachkonferenz aus pädagogischer Sicht, indem sie den Fokus auf die erzieherische Praxis in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen legte. Dabei hielt sie unter anderem fest, dass die Erfahrung der Pandemie die jungen Generationen nachhaltig verändert habe; viele fühlten sich ungehört, alleingelassen und ohnmächtig. "Hier verbinden sich die Zukunftsängste und Sorgen der Kinder und Jugendlichen mit dem Gefühl des Ignoriertwerdens", sagte Wilmes.
Dies habe enorme gesellschaftliche und politische Konsequenzen. Die Unzufriedenheit der persönlichen Lebensumgebung und individuellen Weltsicht übersetzten sich in den jungen Generationen teils direkt in die gesellschaftspolitische Wirklichkeit: "Wahlverhalten, Zukunftsbilder, politische Ausrichtung bezeugen diese Enttäuschung auf eindrucksvolle, ja beängstigende Weise."
Wie also gegensteuern? Kinder und Jugendliche wollten mitsprechen, mitdenken und partizipativ mitentscheiden, und dies gelte es auch im pädagogischen Alltag zu ermöglichen, so die Expertin. Nur wenn sich junge Menschen in ihren tatsächlichen Sorgen gehört und ernstgenommen fühlten, könnten sie auch eine personale Selbstwirksamkeit, Unabhängigkeit und Resilienz ausbilden, sagte Wilmes. Hier helfe es nicht, die Kinder in eine überhöhte und überorganisierte Pädagogik zu drängen, vielmehr sollte man sie mit mehr Freiräumen, offenen Entscheidungsprozessen und eigenverantwortlichen Prioritätensetzungen in Richtung einer aktiven Gestaltungsbereitschaft begleiten: "Wenn wir mit den Kindern Veränderungen und Herausforderungen meistern wollen, dann gelingt das nur, wenn wir dies gemeinsam mit ihnen und nicht an ihnen vorbei schaffen."
2025 "Miteinander" Thema
Der Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirates der Werktagung, der Salzburger Pädagogik-Professor Andreas Paschon, zog am Freitag angesichts des großen Interesses und der regen Teilnahme an der Konferenz ein positives Resümee. 2025 werde die Fachtagung unter Generaltitel "Miteinander" stattfinden, um damit an die Themen der vergangenen beiden Jahre (2023: Zuversicht, 2024: Veränderungen) anzuknüpfen. "Gemeinsam können wir Veränderungen gestalten und Herausforderungen meistern: Im Miteinander liegt der Schlüssel für eine positive Zukunft - im Leben der einzelnen Menschen, in der Familie, aber auch für die Gesellschaft", so Paschon.
Für den nächstjährigen Termin von 9. bis 11. Juli 2025 wurden auch personelle Veränderungen in Beirat und Organisation der Pädagogischen Fachtagung bekanntgegeben. Andreas Gutenthaler, seit 24 Jahren der Direktor des Katholischen Bildungswerkes Salzburg, geht mit 1. September in den Ruhestand, sein designierter Nachfolger Andreas G. Weiß wird an der Spitze des kirchlichen Bildungsanbieters und damit auch in der Organisation der Werktagung seine Nachfolge antreten.
(Abstracts der Vorträge und umfassende Nachlese der Werktagung abrufbar auf der Veranstaltungswebsite unter https://bildungskirche.at/werktagung/nachlese/pressetexte-2023-1)
Quelle: kathpress