Zulehner zur EU-Wahl: Unterwerfungsbereitschaft gefährdet Demokratie
"Warum just in den hart errungenen freiheitlichen Demokratien so viele Bürger:innen populistische, nationalradikale Parteien wählen", hängt laut dem Wiener Theologen und Werteforscher Paul Zulehner mit steigender "Unterwerfungsbereitschaft" zusammen. Offensichtlich steige die Anzahl vor allem junger Menschen, "welche die lästig werdende Last der Freiheit wieder loswerden wollen" und dabei auf neue Führer setzen. Als Ursache für diese demokratiegefährdende Entwicklung nennt Zulehner am Dienstag in einem Blogeintrag zur EU-Wahl die "neue Unübersichtlichkeit" im Sinne von Jürgen Habermas, die Mühe einer "Risikogesellschaft" (Ulrich Beck), unterentwickelte "Pluralitätstoleranz" (Günter Hole) und zunehmende Ichschwäche.
Die heute in Europa wachsende populistische "Politik mit der Angst" benütze prekäre Verhältnisse und damit verbundene Sorgen für Machtgewinn und korrupte Bereicherung. "Angstpolitiker offerieren vereinfachte Lösungen für komplexe Probleme", wies der Theologe hin. So würden etwa Ressentiments gegenüber Schutzsuchenden "zur eigenen Machterlangung und -sicherung bewirtschaftet, sogar gezielt geschürt". Als Ziel werde das Schaffen einer ethnisch und kulturell einheitlichen Nation ausgerufen und Populismus, Radikalismus und Nationalismus "in toxischer Weise gemischt", so Zulehner. "Insofern das Konzept einer bereichernden Vielfalt eng mit der liberalen Demokratie verbunden ist, gerät mit der politischen Abwehr der Vielfalt und dem Streben nach ethnisch-kultureller Uniformität auch die liberale Demokratie in Gefahr."
Ambivalente Rolle von Religion
In solch turbulenten Kontexten spiele Religion trotz der Säkularisierung von Staat und Politik eine gewichtige Rolle. Jedoch: "Religion erweist sich dabei als grundsätzlich zwiespältig", so der Theologe. Manche Anteile jeder Religion könnten negativen Populismus begünstigen, andere freiheitliche Demokratien schützen und stärken.
Als problematisch erachtet Zulehner, dass sich in allen Weltreligionen der Anspruch finde, im Besitz "der" Wahrheit zu sein und zu meinen, anderen Religionen als Heilsweg überlegen zu sein. In der katholischen Tradition habe sich dies über Jahrhunderte hinweg in der Formel "extra ecclesiam nulla salus" ("außerhalb der Kirche kein Heil") verdichtet und zu einer aggressiven Missionspraxis geführt. Erst das Zweite Vatikanische Konzil habe diesen "heilspessimistischen Exklusivismus" überwunden und durch einen "heilsoptimischen Inklusivismus für alle Menschen" ersetzt, so Zulehner. Jedoch finde sich der traditionelle Überlegenheitsanspruch in evangelikalen Gemeinschaften u.a. "sektoid geschlossenen" kirchlichen Gruppen. Religiöse Fundamentalisten und politische Populisten seien wie "(schein)heilige Zwillinge", schrieb Zulehner.
Kritik an Trump und Kyrill
Als Beispiel nannte er den Zuspruch für Donald Trump: "Trotz des hohen Pegels an Unmoralität in Ehefragen wählen erstaunlicherweise US-amerikanische Fundamentalisten, denen gerade Familie und eheliche Treue Topwerte sind, den Demokratieverächter und Populisten."
Kritik übte der Theologe auch daran, dass sich Religionsführer aus eigenen Interessen willig für politischen Missbrauch der Religion hergäben: "Statt dass beispielsweise Patriarch Kyrill I. von der Russisch-Orthodoxen Kirche nach einem Gottesdienst, in dem er die Bergpredigt gehört hat, das Mitglied seiner Kirche Wladimir Putin anruft und ihm zuruft: 'Selig die Friedensstifter! Selig, die keine Gewalt anwenden!', spricht er vom 'Heiligen Krieg' und segnet den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg." Ähnlicher Missbrauch der Religion finde sich in Teilen des Islam, aber auch - etwa im blutigen Dreißigjährigen Krieg - im Christentum. Auf diese Weise gerate Gott in Misskredit.
Religiöser "Vorrat an Hoffnung"
Sofern sich Religionen und Kirchen ihrer eigenen Quellen besinnen, könnten sie in einer "taumelnden Welt" wertvolle Dienste leisten, zeigte sich Zulehner überzeugt. Er erinnerte an den Weg weisenden christlich-islamischen Brückenschlag zwischen Papst Franziskus und dem ägyptischen Großimam Achmet Al-Tayyeb. Auch die im Konziliaren Prozess ökumenisch hoch gehaltenen Werte Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung seien ein Beispiel dafür, dass Religionen "gleichsam Himmelsgeschenke" machen könnten. Dazu zählten auch Überzeugungen von der tiefen Einheit allen Seins, der gleichen und unantastbaren Würde jedes Menschen und der den Religionen innewohnende "Vorrat an Hoffnung" als Ermutigung in Zeiten vieler Ängste.
Im Verzicht auf Heilsexklusivismus könnten Kirchen und Religionen "im religionsverbindenden Miteinander zeigen, dass sie trotz aller Verschiedenheit in Einheit und Einmütigkeit leben und sich für die Welt einsetzen können", schrieb Zulehner. Sie könnten auf das Gemeinsame hinweisen und in den kontroversen Fragen einen gewaltarmen Dialog auf Augenhöhe führen. "Auf diese Weise entstünden Inseln der Freiheit in Gesellschaften, in denen Freiheit populistisch bedroht ist."
Quelle: kathpress