EU-Wahl am 9. Juni: Wohin geht die europäische Reise?
"Wir alle tragen Verantwortung für Europa." - Das betont der Eisenstädter Bischof Ägidius Zsifkovics im Kathpress-Interview im Vorfeld der anstehenden EU-Wahl (9. Juni). Zsifkovics ist in der Österreichischen Bischofskonferenz für Europafragen zuständig. Die EU basiere auf christlich-jüdischen Werten. Dass diese aber auch weiterhin das Fundament bilden, sei keine Selbstverständlichkeit, sondern müsse täglich neu erarbeitet werden, hält Zsifkovics fest. Eindringlich ruft der Bischof deshalb auch die Bevölkerung auf, an den EU-Wahlen im Juni teilzunehmen.
In die gleiche Kerbe schlägt auch Pfarrer Mario Fischer. Er ist Generalsekretär der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE). Die EU-Wahl im Juni ist nicht irgendeine belanglose Wahl zu einem Gremium im fernen Brüssel, das Österreich nur am Rande tangiert. Nein, es würden vielmehr bei dieser Wahl zentrale Weichenstellungen für die Zukunft Europas und damit auch Österreichs gestellt.
Rund 400 Millionen Bürgerinnen und Bürger in den 27 EU-Staaten entscheiden mit ihrer Stimme über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments, und dieses spielt - vielen Unkenrufen zum Trotz - eine wichtige Rolle.
Der GEKE gehören knapp 100 protestantische Kirchen an. Sie hat ihren Sitz in Wien. Zum GEKE-Leitungsteam gehört auch Oberkirchenrätin Ingrid Bachler: "Demokratie und Menschenrechte sind keine Selbstverständlichkeit. Sie müssen täglich aufs Neue erarbeitet werden, in Österreich wie auf Europa-Ebene", betonte sie vor Kurzem gegenüber der evangelischen österreichischen Kirchenzeitung SAAT.
Die Spitzenvertreter der EU sehen das naturgemäß nicht anders, wie kürzlich bei einer Kathpress-Pressereise nach Brüssel deutlich wurde. Österreichs EU-Kommissar Johannes Hahn und der Vizepräsident des EU-Parlaments Othmar Karas, sprachen etwa übereinstimmend von einem globalen Konflikt zwischen Autokratie und Demokratie.
Was vielen Menschen in Österreich nicht bewusst ist. Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit sind global gesehen alles andere als ein Mehrheitsprogramm. Nur rund ein Viertel der Weltbevölkerung lebt in demokratischen Staaten, die diese Bezeichnung auch verdienen; Tendenz abnehmend.
Das EU-Parlament
Die Eckdaten zur EU-Wahl: Im Juni werden insgesamt 720 Mitglieder des Europäischen Parlaments gewählt. Die Zahl der Abgeordneten hängt dabei weitgehend von der Größe bzw. Bevölkerungszahl des jeweiligen Landes ab. So stellt Deutschland im künftigen EU-Parlament 96 Mitglieder, gefolgt von Frankreich (81), Italien (76), Spanien (61) und Polen (53). Österreich liegt mit 20 Abgeordneten genau in der Mitte der 27 Mitgliedsstaaten. "Schlusslichter" sind Zypern, Luxemburg und Malta mit je sechs Abgeordneten. Sechs ist auch die festgeschriebene Mindestzahl an Mitgliedern, 96 die Höchstzahl. Abgeordnete aus kleinen Ländern vertreten deshalb mehr Menschen als Abgeordnete größerer Länder.
Das Europäische Parlament ist die einzige direkt gewählte transnationale Versammlung der Welt. Das Parlament prüft die von der EU-Kommission eingebrachten Gesetzesvorschläge, gestaltet diese mit und muss sie auch verabschieden. Das EU-Parlament genehmigt zudem den EU-Haushalt und prüft die Verwendung der finanziellen Mittel. Es wählt den Präsidenten bzw. die Präsidentin der Europäischen Kommission, die dem Parlament auch rechenschaftspflichtig ist.
Und nicht nur nebenbei bemerkt: Bis zu 80 Prozent aller Gesetze, die in Österreich zur Anwendung kommen, werden bereits auf EU-Ebene beschlossen und dann nur mehr in nationales Recht umgegossen. Deshalb betont etwa auch GEKE-Generalsekretär Fischer so eindringlich, dass man sich in Brüssel mit Energie, Herzblut und Ressourcen einbringen müsse - anstatt in Österreich über die EU zu jammern oder zu schimpfen.
Vielfältige Herausforderungen
Warum aber stehen demokratische Strukturen derzeit so unter Beschuss und verzeichnen Extremisten Auftrieb? Die Antwort ist einfach wie schwierig zugleich: Die vielfältigen Krisen der Gegenwart erzeugen Angst, Gefühle der Machtlosigkeit und der Verunsicherung. Eine hervorragende Spielwiese für Populisten, Nationalisten und Extremisten jeder Art, die einfache Lösungen für komplexe Fragen versprechen.
Wobei: Herausforderungen gibt es wahrlich genug. Die Frage ist nur, wie man damit umgeht. Pfarrer Fischer nennt etwa den Einsatz gegen den Klimawandel, die Förderung sozialer Gerechtigkeit, eine menschenrechtskonforme, solidarische Asyl- und Migrationspolitik, Europa als Friedensprojekt, die Unterstützung der Ukraine, die Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die Berücksichtigung des christlichen Menschenbilds beim Thema Digitalisierung und Künstliche Intelligenz. Der GEKE-Generalsekretär zeigt sich überzeugt, dass diese Herausforderungen von den europäischen Staaten nur gemeinsam gelöst werden können.
Kirchen und Politik
Um im politischen Prozess in Brüssel aber überhaupt eine Rolle spielen zu können, müssten die Kirchen geeint auftreten, forderte Fischer. Er verweist auf das EU-Transparenzregister. Demnach waren Ende 2023 rund 12.300 Interessenvertretungen in Brüssel akkreditiert und versuchten, Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen. Da bleibt für kleine kirchliche Einzelkämpfer kein Platz.
Auch Bischof Zsifkovics mahnt gegenüber "Kathpress" den verstärkten gemeinsamen Einsatz der Kirchen in Brüssel ein: "Nicht über die EU reden, sondern mit der EU und in der EU reden."
EU-Dialog mit Religionen ausbaufähig
Wobei die Kirchen zumindest in der Theorie gar nicht einmal so schlechte Karten haben. Als "Verfassung", nach der die EU derzeit überhaupt funktioniert, dient der Vertrag von Lissabon aus dem Jahr 2009. Teil dieses Vertrags ist der strukturierte Dialog der EU-Institutionen mit den Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Geregelt ist dieser Dialog im Artikel 17, in dem es wörtlich heißt: "Die Union pflegt mit diesen Kirchen und Gemeinschaften in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog."
So gibt es regelmäßige Treffen von Vertretern der EU-Kommission und des Parlaments mit Leitungspersonen von Religionsgemeinschaften. Dabei werden die großen Themen angerissen, etwa die Zukunft Europas, Migration und Asyl oder der Krieg in der Ukraine. Tiefergehende Gespräche sind in diesem offiziellen Rahmen freilich kaum möglich. Manch ein Beobachter spricht auch von einem "Schaulaufen" auf höchster Ebene, es fehle die Substanz. Daneben gibt es aber auch das eine oder andere Treffen auf niedrigeren Ebenen, wo ein intensiverer inhaltlicher Austausch möglich ist. Auf jeden Fall scheint es im Blick auf substantielle Gespräche und Diskussionen noch Luft nach oben zu geben.
Othmar Karas meint, dass es solche Dialoge nicht nur auf höchster Ebene geben soll. Ihm würde vorschweben, einen solchen Dialog auch viel stärker in den einzelnen Mitgliedsländern, ja hinunter gebrochen bis auf Bundesländer-Ebene bzw. Diözesen durchzuführen. Für Karas bringen sich die Kirchen und Religionen nach wie vor zu wenig in den politischen Dialog auf EU-Ebene ein. Für diesen demokratischen Diskurs und den nötigen gesellschaftlichen Zusammenhalt brauche es ganz dringend auch den Beitrag der Kirchen und Religionen, mahnte der Parlamentsvizepräsident.
Auf offene Ohren fällt der Appell des Politikers bei Bischof Zsifkovics. Trotz aller Schwächen und Probleme gibt es zur EU kein besseres Modell für Europa, "um Fortschritt, Freiheit und Frieden zu erhalten", zeigt sich der Bischof überzeugt.
Als "Europa-Bischof" ist Zsifkovics der österreichische Delegierte in den Gremien der "Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft" (COMECE). Über die COMECE führen die katholischen Bischofskonferenzen der 27 Mitgliedstaaten den Dialog mit den EU-Institutionen.
Ein 1:1 evangelisches Gegenstück zur COMECE gibt es nicht. Wohl aber etwa die "Konferenz europäischer Kirchen" (KEK) und das EKD-Büro in Brüssel. Der KEK gehören 114 orthodoxe, anglikanische, altkatholische, lutherische, reformierte, unierte und methodistische Kirchen Europas an. Die KEK geht damit über die Grenzen der EU hinaus und repräsentiert rund 380 Millionen Christinnen und Christen. Nichtsdestotrotz ist die Lobby-Arbeit in Europa für die KEK zentral. Das wird auch dadurch deutlich, dass die KEK ihren Sitz in Brüssel hat.
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ist ebenfalls mit einem Büro in Brüssel vertreten. Die Mitarbeitenden des EKD-Büros beobachten das europäische Rechtsetzungsverfahren und vertreten die kirchlichen Positionen gegenüber den EU-Institutionen. Die Einrichtung versteht sich zugleich als Informationsbüro für kirchliche Einrichtungen und Organisationen. Regelmäßig wird aus kirchlicher Sicht über das aktuelle politische Geschehen in Brüssel berichtet.
Die Leiterin des Büros der EKD in Brüssel, Katrin Hatzinger, plädierte gegenüber der Kirchenzeitung SAAT dafür, die EU als Werte- und Solidaritätsgemeinschaft weiterzuentwickeln. Die EU müsse ein "Stabilitätsanker" in bewegten Zeiten sein.
COMECE, KEK und EKD arbeiten in Brüssel eng zusammen, wenn es darum geht, die Positionen der Kirchen in den EU-Gesetzgebungsprozess einzubringen. Von Lobbyarbeit sprechen die Kirchenvertreter nicht so gerne, lieber nehmen sie den Begriff "Anwaltschaft" in den Mund. Das wird beispielsweise am neuen Asyl- und Migrationspakt deutlich, wo die Kirchen sich nach Kräften bemühten, menschenrechtliche Standards einzumahnen.
"Miteinander für Europa"
Weniger eine Einrichtung der Kirchenleitungen als eine Initiative von der Basis her ist das internationale Netzwerk "Miteinander für Europa". Dieses wurde 1999 anlässlich der Unterzeichnung der gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre zwischen dem Lutherischen Weltbund und der Katholischen Kirche begründet. Heute gehören ihm über 300 christliche Bewegungen aus ganz Europa an, in denen sich evangelische, katholische, anglikanische, orthodoxe und freikirchliche Gläubige für Einheit und Versöhnung engagieren.
In einer gemeinsamen Erklärung mit COMECE, KEK und der Interparlamentarischen Versammlung zur Orthodoxie (IAO) - auch die orthodoxen Kirchen setzen sich für die EU ein - warnte das Netzwerk vor Kurzem vor der "Aushöhlung der Grundsätze der demokratischen Gesellschaft". Im Umgang mit den aktuellen Herausforderungen könnten die christlichen Werte einen sicheren Ansatz bieten und müssten daher von den politisch Verantwortlichen in Europa berücksichtigt werden, zeigte sich das Netzwerk überzeugt.
"Chapel for Europe"
Christliche Verantwortung für Europa realisiert sich freilich nicht nur in politischer Arbeit. Es geht auch um ganz praktische Seelsorge. Zum Beispiel in der "Chapel for Europe". Inmitten von Hochhäusern aus Beton und Glas, in unmittelbarer Nähe zu den EU-Institutionen, erhebt sich eine eher unscheinbare kleine Kirche. Die "Chapel for Europe" ist ein Ort, der allen Mitarbeitern aus den Staaten der EU offensteht.
Der deutsche Jesuitenpater Bernd Günther, der sich um den Betrieb kümmert, erinnert gegenüber "Kathpress" an die Worte des Europa-Politikers Jacques Delors: "Wenn es in den kommenden zehn Jahren nicht gelingt, Europa eine Seele zu geben, es mit einer Spiritualität und einer tieferen Bedeutung zu versehen, dann wird das Spiel zu Ende sein." Daher appellierte Delors an die Kirchen, sich aktiv in die EU einzubringen. - Das war schon 1992. An der Aktualität des Zitats hat sich freilich nichts geändert.
Bernd Günther und seinem Team geht es darum, "den Politikbetrieb zu begleiten". Die Chapel besteh aus gleich zwei Gottesdiensträumen und einem Saal. Sie wird von Katholiken, Protestanten, Orthodoxen und einigen Freikirchen gleichermaßen genutzt. Günther erinnert an die islamistischen Terroranschläge in Brüssel 2016, als die Kapelle ein Ort des Gebets und des Trostes war. Oder an den Tag des "Brexit". Damals war die Chapel bis auf den letzten Platz gefüllt und die Menschen hatten Tränen in den Augen.
Entscheidende Richtungswahl
Der "Brexit", also der Austritt Großbritanniens aus der EU, zählt sicher nicht zu den positiven Highlights der EU-Geschichte. Was zudem vielen in Europa ebenfalls nicht bewusst ist. Derzeit leben gerade noch fünf Prozent der Weltbevölkerung in der EU, schon in wenigen Jahren werden es nur mehr 4 Prozent sein. Die damit verbundene Botschaft ist klar: Wenn die EU auch künftig in der Welt eine Rolle spielen will, muss sie geeint auftreten. Das ist freilich kein Widerspruch zu interner Vielfalt.
Die anstehende EU-Wahl ist für Othmar Karas, der selbst nicht mehr kandidiert, eine Richtungsentscheidung. "Wer, wenn nicht die EU wird die Fahne der Demokratie in der Welt hochhalten und dafür einstehen"; u.a. auch mit einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, so der EU-Politiker.
Diese gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist auch dem VP-Abgeordneten Lukas Mandl ein großes Anliegen. Dafür brauche es aber eine Reform der Institutionen: "Das Einstimmigkeitsprinzip ist ein Hemmschuh." Mandls Vision der EU: "Mehr Stärke nach außen, mehr Freiheit nach innen."
Die europäische Zivilisation, die auf einem jüdisch-christlichen Erbe basiere, stehe unter großem Druck, von außen, aber auch von innen, meint Mandl, der sich - als einziger angefragter österreichischer EU-Parlamentarier - für die teilnehmenden Journalisten der Kathpress-Reise mit Bischof Zsifkovics nach Brüssel viel Zeit genommen hat. Antikirchliche bzw. antireligiöse Ressentiments seien unter den EU-Abgeordneten weitverbreitet, trotzdem gelte es in Sachfragen mit allen guten Willens das Gespräch und die Zusammenarbeit zu suchen. Es brauche ein entschiedenes Auftreten gegen Extremismus, Spaltung und Hass, von welcher Seite auch immer. Dankbar zeigt sich der EU-Parlamentarier für die Zusammenarbeit mit den kirchlichen Organisationen in Brüssel.
Für EU-Kommissar Hahn braucht es im Blick auf die Wahlen eine genügend starke "Zustimmung zur Mitte", um Wettbewerbsfähigkeit, Wohlstand und die Sicherheit Europas zu erhalten. Dabei misst auch Hahn den Kirchen eine zentrale Rolle und Aufgabe zu. Sie seien in gesellschaftlichen Fragen ein ganz zentraler Faktor. Hahn verweist auch auf die EU als Friedensprojekt. Und innerhalb dieses Friedensprojekts sei wiederum der soziale Friede eine immense Herausforderung, für deren Bewältigung es die Kirchen brauche.
Ein weiteres zentrales Zukunftsthema ist die Erweiterung der EU: Albanien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro, Mazedonien, Moldau, Georgien und auch die Ukraine klopfen an die europäische Tür. Es gibt viele gute Gründe, weitere Mitglieder in die EU aufzunehmen, es gilt dazu freilich erst einmal, die eigenen Hausaufgaben zu erledigen, meint etwa Katrin Hatzinger vom Brüsseler EKD-Büro. Es brauche eine Reform der EU-Institutionen, um einer Überdehnung der EU vorzubeugen und die Handlungsfähigkeit der EU zu erhalten. - Viel Arbeit für die EU-Parlamentarier.
Gefragt sind deshalb EU-Abgeordnete, denen die Weiterentwicklung Europas ein Anliegen ist, die Fehlentwicklungen kritisch-konstruktiv aufzeigen und Schritte in die richtige Richtung setzen. Doch die würden nicht vom Himmel fallen, sondern müssten gewählt werden, so die evangelische Oberkirchenrätin Ingrid Bachler. Sie appelliert via SAAT eindringlich an die Österreicherinnen und Österreicher, für Europa Verantwortung zu übernehmen und von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen: "Jede und jeder von uns bestimmt mit, wohin die europäische Reise geht."
Und nochmals Europa-Bischof Zsifkovics: "Trotz aller Schwächen und Probleme gibt es zur EU kein besseres Modell für Europa, um Fortschritt, Freiheit und Frieden zu erhalten". Wir dürfen Europa nicht den Populisten, Ideologen und Besserwissern zu überlassen. Vielmehr gilt es, die vernünftigen Kräfte der Mitte zu sammeln, um gemeinsam an Europa weiterzubauen."
Quelle: kathpress