Psychiater: Kirche braucht Missbrauchs-Prävention auf allen Ebenen
Alle Bildungs- und Freizeiteinrichtungen für Kinder und Jugendliche bräuchten eigene Schutzkonzepte gegen Missbrauch und Gewalt, wobei die Kirche mit gutem Beispiel vorangehen sollte: Das hat Jörg Fegert, Präsident der Europäischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, bei der derzeit in Wien stattfindenden Fachtagung der katholischen Kirche der deutschsprachigen Länder zu Missbrauchs-Prävention dargelegt. "Wir brauchen auf allen Ebenen geregelte Maßnahmen, damit die Einzelperson Gehör findet und weiß, wo sie Hilfe bekommt - bei Gewalt und Missbrauch, aber auch bei Mobbing, Bullying und emotionaler Gewalt durch Erwachsene, die ähnliche Folgen wie sexuelle Gewalt haben kann", sagte der Experte.
Speziell die christlichen Kirchen seien gefordert, eigene Antworten im Präventionsbereich zu finden, wollten sie gesellschaftlich relevant bleiben, drängte Fegert. Er sei optimistisch, dass weitere Fortschritte gelängen, habe sich die Kirche - speziell die katholische - doch schon bisher "viel bewegt". Dennoch riet der Leiter der Kinderpsychiatrie am Universitätsklinikum Ulm zu Misstrauen hinsichtlich der Statistiken kirchlicher Ombudsstellen auch in Österreich, wonach ab 2000 praktisch keine neuen Fälle mehr gemeldet worden seien. "Wenn das stimmen würde, wäre die Kirche der sicherste Ort für Kinder."
Hinsichtlich der tatsächlichen Dimension von Missbrauch verwies Fegert auf Repräsentativbefragungen bei Erwachsenen in Deutschland über Missbrauch in der eigenen Kindheit. Dabei zeige sich, dass die Schule unter den institutionellen Einrichtungen der häufigste Ort dafür sei, mit geschätzten 1,4 Prozent Betroffenen, gefolgt vom Sporttraining (0,28 Prozent) und der Kirche, wobei katholische und evangelische Einrichtungen gleichauf mit je 0,16 Prozent liegen, der Musikunterricht bei 0,12 Prozent. Umgerechnet seien dies "über eine Million geschätzte Betroffene in Schulen, 200.000 im Sport und je 113.000 in katholischen und evangelischen Einrichtungen", verdeutlichte der Psychiater. Auch für die Kirche gelte somit: Die von der deutschen MHG-Studie ermittelten 3.677 Betroffenen durch 1.670 Täter in den Jahren 1944 bis 2014 könne "nur die Spitze des Eisbergs" sein.
WHO-Schätzungen zufolge sind allein unter den Kindern in Europa 8 Millionen von sexuellem Missbrauch, 44 Millionen von körperlicher und 55 Millionen von psychischer Misshandlung betroffen, wobei 90 Prozent davon von Fachkräften übersehen würden. Dies sei verheerend, habe doch erlebte Kindesmisshandlung weitreichende Konsequenzen u.a. auf die Bildungs- und Berufsaussichten, Lebensqualität und Gesundheit, sagte Fegert. "Selbst in der reichen europäischen Region ist die Missbrauchs-Prävention jener Gesundheitsbereich, bei dem mit wenig Investition das beste Ergebnis erzielt werden könnte", unterstrich der renommierte Kinder- und Jugendpsychiater.
Betroffene brauchen Hilfe und Teilhabe
Wichtig seien einerseits Schutzkonzepte - besonders dort, wo es das größte Risiko gebe wie etwa in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sowie für Menschen mit Behinderungen. Doch auch weit mehr Informationskampagnen gegen Missbrauch, "die gut vorbereitet und viel mehr als bloße Alibi-Aktionen sind" forderte der Experte. Dabei gelte es, Zerrbilder und selbst erfüllende Prophezeiungen zu vermeiden. Der Opferperspektive werde man durch Fotos kaputter Puppen oder Metaphern wie "Seelenmord" nicht gerecht. "Betroffene selbst dürfen sagen, dass sie für ihr Leben geschädigt wurden, ihr Leben geht jedoch weiter und sie müssen damit klarkommen. Was sie brauchen, ist Hilfe und Teilhabe", so Fegert. Gute Erfahrungen gebe es bei Jugendlichen mit sogenannten "Serious Games", die etwa gegen Machtmissbrauch sensibilisieren.
Auch bei der Kirche sah der Experte noch viel Aufholbedarf. Sie sei in "Bringschuld" hinsichtlich der Informationen zu ihrer Missbrauchs-Prävention und über Abläufe, "denn es kann nicht sein, dass etwa Priester-Täter das Beichtgeheimnis bewusst so missdeuten, dass der Beichtende mit niemand über das Gebeichtete reden darf". Aussagen von Papst Franziskus, Missbrauchstäter seien Monster oder "Werkzeuge Satans", würden eher der Isolierung des Einzeltäters als dem Aufzeigen eines Strukturproblems der Kirche dienen. Mit scharfer Kritik bedachte Fegert zudem "Kirchenjuristen, die über Leichen gehen": Immer wieder komme es vor, dass die Glaubwürdigkeit von Betroffenen bei Antragstellung in Zweifel gezogen würden, was "massiven Schaden" verursache und "systematisches Unrecht" sei. "Angesichts der Kernbotschaft des Christentums darf die Kirche ihre Opfer niemals vergessen. Sie zu übersehen ist ein Teil des Scheiterns", so Fegert.
Quelle: kathpress