Theologin vermisst in Vatikan-Erklärung ehrliche Selbstreflexion
Mehr Selbstkritik hätte sich die deutsche Dogmatikerin Gunda Werner in der Erklärung des Vatikans "Dignitas infinita" zur Menschenwürde gewünscht. Es sei "Augenwischerei, so zu tun, als habe Würde immer im Zentrum kirchlicher Argumentation gestanden", sagte Werner in einem Interview des Portals "katholisch.de" am Dienstag. Historisch gesehen habe sich die Kirche kaum auf die Würde aller Menschen bezogen, "stattdessen ging es vor allem um die Würde des Mannes". Werner ist Professorin für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum.
Es sei wichtig, dass das am Montag veröffentlichte Dokument etwa Gewalt in der digitalen Welt, Gewalt gegen Frauen und Menschenhandel thematisiere. Jedoch werde etwa sexualisierte Gewalt in wenigen Sätzen abgehandelt, kritisierte die Theologin. "Missbrauch wird als Hindernis für die Sendung der Kirche erkannt, aber dass es innerhalb der Kirche vielleicht Strukturen gibt, die Missbrauch begünstigen, kommt nicht vor. Eine Wendung des Blicks nach innen fehlt völlig, das eigene Handeln der Kirche bleibt unreflektiert."
Fehlende Selbstreflexion zeige sich auch an anderen Beispielen. So würden "gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Gleichberechtigung und gleiche Aufstiegschancen im Beruf" zu Recht einfordert, erklärte Werner. "Aber dann steht da kein einziger Satz dazu, dass es vielleicht doch ein bisschen peinlich ist, dass es diese Chancen bei uns in der Kirche nicht gibt". Ebenso klafften die Aussagen zu homosexuellen Menschen und Transpersonen auseinander: Einerseits würden Staaten ermahnt, nicht gegen diese vorzugehen, andererseits werde "nach innen jede homosexuelle Handlung" verurteilt und Transmenschen das Existenzrecht abgesprochen.
Unklar bleibe zudem, gegen welche Gender-Theorien sich das Lehramt wende. "Gender-Theorien wollen keinen neuen Menschen schaffen", betonte die Wissenschaftlerin. Vielmehr gehe es ihnen darum, eine "radikale Diversität" des Menschen zum Ausdruck zu bringen, damit "Menschen für die Art und Weise, wie sie sich verstehen und wie sie sich vorfinden, Worte für sich selbst finden". Über diese Themen werde derweil auch in Afrika, Lateinamerika oder Asien gesprochen und gerungen. Es sei "eine Form kolonialen Denkens, wenn man Debatten mit dem Argument abwürgen will, weil 'die Weltkirche' angeblich noch nicht so weit sei."
US-amerikanische Stimmen
Der US-amerikanische Moraltheologe David Cloutier (Catholic University of America/Washington DC) sagte dem Nachrichtenportal "Crux" (Dienstag), das Dokument sei eine "kraftvolle Aussage" der Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, die nicht einem bestimmten Papsttum zuzuordnen sei. Als besonders positiv hob er die Reflexionen in "Dignitas infinita" über den Begriff der Würde bzw. dessen Verwendung hervor. Oftmals werde er in einer Weise verwendet, die nicht mit der Lehre der Kirche übereinstimme, sagte Cloutier: "Das Dokument nimmt sich viel Zeit, um auf diese Fehler hinzuweisen und zu versuchen, die Missverständnisse zu beschreiben, die zu diesen Missverständnissen der Würde führen."
Die Moraltheologin Jana Bennett (University of Dayton) sagte gegenüber "Crux", dass sie aus dem Dokument vor allem den Gedanken mitnehme, dass die Würde dem Menschsein inhärent sei, worauf alle anderen Punkte des Dokuments aufbauen. Allerdings gehe die Erklärung dann in den einzelnen konkreten thematischen Bereichen nicht in die Tiefe, sodass man, wenn man an einer ausführlicheren Diskussion zu den aufgeworfenen Fragen interessiert sei, in diesem Dokument nicht fündig werde.
Ein Sprecher der US-Bischofskonferenz sagte, dass die Bischöfe dankbar seien für die Erklärung. Das Dokument unterstreicht die lange Tradition und Lehre der Kirche, wie wichtig es sei, die Würde der menschlichen Person unter allen Umständen anzuerkennen, zu respektieren und zu schützen.
Der Direktor der katholischen LGBTQ+-Organisation "New Ways Ministry", Francis DeBernardo, zeigte sich gegenüber "Crux" enttäuscht. Während das Dokument eine wunderbare Begründung dafür liefere, warum jeder Mensch, unabhängig von seiner Lebenssituation, respektiert, geehrt und geliebt werden muss, werde dieses Prinzip nicht auf "diverse" Menschen angewendet, kritisierte DeBernardo.
Quelle: kathpress