1934: Eher "Kanzlerdiktatur" als "Christlicher Ständestaat"
Die Bewertung der Kanzlerjahre unter Engelbert Dollfuß und der Gewalteskalation in den Februarkämpfen des Jahres 1934 ist in der Zeitgeschichtsforschung nach wie vor "umstritten wie keine andere Periode in der Geschichte unseres Landes". Darauf hat der Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs, Helmut Wohnout, hingewiesen und gleichzeitig Vorbehalte gegenüber den Bezeichnungen "Christlicher Ständestaat" und "Austrofaschismus" für diese Jahre geäußert. In einem ausführlichen Interview der Wiener Kirchenzeitung "Der Sonntag" schilderte er die Hintergründe der Zerwürfnisse zwischen Christlichsozialen und Sozialdemokraten; nach dem Weltkrieg hätten sowohl die katholische Kirche als auch die Parteien ihre Lehren aus den damaligen Konflikten gezogen.
Wohnout selbst bevorzuge in seinen wissenschaftlichen Arbeiten den von ihm geprägten Begriff der "Kanzlerdiktatur" für die Jahre unter Dollfuß. "Es steht außer Streit, dass es eine autoritäre Herrschaft war", die nach dem 5. März 1933 schrittweise begründet worden sei. Dieses Datum bilde nach der "Selbstausschaltung des Parlaments" in Österreich "die große Zäsur" auf dem Weg von der Demokratie hin zur autoritären Regierung, gestützt auf das noch aus dem Ersten Weltkrieg stammende Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz. In der Realverfassung seien so gut wie alle Kompetenzen beim "ungeheuer dominanten" Bundeskanzler zusammengelaufen, weshalb "Kanzlerdiktatur" als Charakterisierung zutreffend sei, so der Historiker.
Der Begriff eines "Christlichen Ständestaates" dagegen lasse sich "kaum mehr aufrechterhalten". Die Berufung der österreichischen Christlichsozialen auf die Sozialenzyklika "Quadragesimo anno" von Papst Pius XI. verenge den dort erwähnten berufsständischen Aufbau eines Staates. Die Interpretation des päpstlichen Rundschreibens in Österreich sei in Deutschland von katholischen Sozialethikern wie Oswald von Nell-Breuning völlig anders gesehen worden, sagte Wohnout.
Christliche Prinzipien vs. Faschismus
Aber auch "Austrofaschismus" sei nicht zutreffend für die Charakterisierung des politischen Systems zwischen 1933 und 1938. "Denn es gab doch ganz wesentliche Unterschiede sowohl zum faschistischen Italien als auch zum nationalsozialistischen Deutschland", sagte der Historiker. Er verwies auf den damals hierzulande fehlenden "Mythos einer politischen Religion" bzw. "rassentheoretischen Ansatz", es habe auch "keine durchgehende Identität zwischen dem Volk, einer Einheitspartei und der Staatsführung" gegeben und "keine aggressive Außenpolitik gegenüber den Nachbarn".
Allein schon aus der ausdrücklichen Berufung auf christliche Grundprinzipien und dem Transzendenzbezug ergibt sich für Wohnout "eine deutliche Grenze, die der Politik Dollfuß' und Schuschniggs gezogen war". Das Festhalten an den katholischen Wurzeln sei einer jener Faktoren gewesen, der das Abgleiten in einen totalitären Staat in Österreich vor 1938 verhindert habe.
Freilich müsse im Blick auf die Ereignisse in Österreich immer auch die Entwicklung in Deutschland und Italien gesehen werden - "was in Österreich vielleicht manchmal ein bisschen zu wenig geschehen ist", so Wohnout. Der seit Jänner 1933 in Deutschland an der Macht befindliche Adolf Hitler habe ultimativ den Rücktritt der Regierung Dollfuß, die Berufung der 1932 auch in Österreich erstarkten Nationalsozialisten in eine Übergangsregierung und rasche Neuwahlen verlangt. Es habe sich eine Eigendynamik entwickelt, die "mehr und mehr zu einer diktatorischen Lawine" angeschwollen sei: Es kam zum Verbot des Schutzbundes, der Kommunistischen Partei und auch der Nationalsozialisten, worauf Hitler versucht habe, "zusätzlich zum Terror durch die sogenannte 1.000-Mark-Sperre auch wirtschaftlich Druck auf Österreich auszuüben". Außenpolitisch habe Dollfuß ausschließlich bei Mussolinis Italien Rückhalt gefunden, der auf die "Verbannung der ihm verhassten Sozialdemokratie aus dem politischen Leben" gedrängt habe.
Mit der berühmte "Trabrennplatzrede" Dollfuß im September 1933 am Rande des Katholikentags sei die Regierung geraden Weges in eine autoritäre Herrschaft gegangen, erklärte der Generaldirektor des Staatsarchivs. Die Entwicklung habe ab da "eine irreversible Dynamik angenommen" und sei am 12. Februar 1934 beim sogenannten Februaraufstand eskaliert. Die Kämpfe forderten insgesamt 356 Todesopfer; von den gefassten Rädelsführern wurden in standrechtlichen Verfahren 21 zum Tode verurteilt und neun dieser Urteile standrechtlich vollstreckt. "Der latente Konflikt zwischen den weltanschaulichen Lagern ist im Februar 1934 im großen Stil in Gewalt umgeschlagen", bedauerte Wohnout. "Es ist Blut geflossen und zahlreiche Menschenleben waren zu beklagen. Dies war eine dramatische Zäsur in der jüngeren österreichischen Geschichte."
"Sachwalter der Anliegen der Kirche"
Über die Involvierung der Kirche erläuterte Wohnout als Hintergrund, dass die Christlichsozialen nach dem Ende der Monarchie anstelle des kaiserlichen Throns "als Sachwalter der Anliegen der Kirche" fungierten. Bei den Themen Unterrichtswesen, Eherecht und Entlohnung von Priestern hätten sie im Kulturkampf zwischen Kirche und Sozialdemokratie die Interessen ersterer vertreten. 1919 seien die Sozialdemokraten genauso wie die Deutschnationalen mit stark antiklerikaler Ausrichtung für eine Trennung von Kirche und Staat eingetreten. Der sogenannte "Glöckel-Erlass" von 1919, benannt nach dem sozialdemokratischen Unterrichtsstaatssekretär Otto Glöckel, sah die Aufhebung des obligatorischen Religionsunterrichts vor. "Die Sozialdemokratie hat Positionen gegenüber der Kirche bezogen, die eindeutig auf einen offenen Konflikt hinausgelaufen sind", verwies Wohnout etwa auf große Kirchenaustritts-Kampagnen.
Bis zum Beschluss der Bischofskonferenz vom 30. November 1933, dass sich der Klerus aus der aktiven Parteipolitik zurückziehen muss, gab es in Österreich mehrere Priester-Politiker - mit Ignaz Seipel als dem bekanntesten Quereinsteiger bei den Christlichsozialen. Kurz danach lobten die österreichischen Bischöfe in einem gemeinsamen Weihnachtshirtenbrief die Regierung Dollfuß für dessen Ansinnen, "ein nach christlichen Grundsätzen geleitete Staatswesen errichten" zu wollen. Sie wollten damit laut Wohnout Spekulationen begegnen, der verordnete Politikrückzug der Priester signalisiere Distanz zur Regierung Dollfuß. "Das war eindeutig nicht der Fall." Auch die vatikanische Diplomatie habe die Regierung Dollfuß und den von ihr eingeschlagenen Weg unterstützt.
Die österreichischen Bischöfe verabschiedeten bei ihrer außerordentlichen Bischofskonferenz am 22. und 23. Februar 1934 in Wien einen um Versöhnung bemühten Hirtenbrief an die Gläubigen. Darin heißt es: "Schmerzlich beklagen auch wir Bischöfe die Opfer der vergangenen Tage, wenden den Familien der Opfer innige Teilnahme zu." Alle Kreise der Bevölkerung sollten jetzt "bestrebt sein, Frieden zu schaffen und Frieden zu erhalten, alles zu unterlassen, was Unfrieden hervorruft oder verschärft". Und alle Schichten der arbeitenden Bevölkerung "müssen volle gesellschaftliche Gleichberechtigung und Würdigung erlangen können", forderten die Bischöfe.
Die Lehren aus düsterer Zeit
Laut dem Generaldirektor des Staatsarchivs führten die Jahre zwischen 1938 und 1945, aber auch schon die Jahre vor 1938 dazu, dass sowohl die katholische Kirche in Österreich als auch die im April 1945 entstandene Österreichische Volkspartei die Lehren aus dieser Zeit zogen. Die Kirche habe sich nicht mehr exklusiv an eine einzige politische Partei binden wollen. Auch die Volkspartei sah sich - so Wohnout - nicht mehr als ausschließlich konfessionell auf das katholische Österreich ausgerichtet und wurde 1945 als eine breite bürgerliche Sammelbewegung mit einem klaren Bekenntnis zu christlichen Wertvorstellungen gegründet. Und auch die Sozialdemokratie habe vom Antiklerikalismus der Zwischenkriegszeit abgesehen und im Laufe der Zeit den Dialog mit den Bischöfen aufgenommen.
Wohnout erinnerte an ein treffendes Zitat von Kardinal Franz König für die Entwicklung nach 1945: "Es sind die Parteien selbst, die durch ihre Programme, ihre Praxis und die Auswahl ihrer handelnden Personen Nähe oder Ferne zur Kirche ausdrücken." Nicht "Äquidistanz" der Kirche zu den Parteien treffe somit zu - "es liegt an den Parteien und ihrem Handeln, wie weit sie mit den Grundsätzen der Kirche übereinstimmen".
Quelle: kathpress