"Kind als Schaden"-Judikatur: Experten fordern Umdenken
Die rechtliche Gleichsetzung einer vom Gynäkologen nicht entdeckten Fehlbildung an einem Fötus ("wrongful birth") mit einer missglückten Verhütung ("wrongful conception") durch den Obersten Gerichtshof (OGH) bestärkt Fachleute aus dem kirchlichen Bereich in den schon bestehenden Bedenken gegenüber der "Kind als Schaden"- Judikatur. Obwohl nicht beabsichtigt, werde dieses Urteil unweigerlich die Wahrnehmung "Kind als Schadensfall" fördern, warnte die Direktorin des Bioethik-Instituts IMABE, Susanne Kummer, am Dienstag gegenüber der Nachrichtenagentur Kathpress. Die Schaffung einer neuen Gesetzeslage und eines Fonds könnte dem entgegenwirken.
Der OGH reagierte vergangenen Donnerstag auf den Fall eines Kärntner Paares, das einen Gynäkologen geklagt hatte. Hätte dieser sie über die schwere körperliche Behinderung ihres Kindes aufgeklärt, hätten sie es abgetrieben, argumentierten die Eltern, die vom Arzt wegen seiner Versäumnisse beim Ultraschall und bei der Pränataldiagnostik nicht nur die durch die Behinderung entstandenen Mehrkosten, sondern die gesamten Unterhaltskosten für das Kind forderten. Das Erstgericht in Klagenfurt gab ihnen Recht und verurteilte den Mediziner zur Zahlung von 76.500 Euro, was in zweiter Instanz vom Oberlandesgericht Graz bestätigt wurde.
Der OGH gab der Revision des Arztes gegen das Urteil nicht statt, sondern bestätigte die Rechtsprechung der Vorinstanzen, wonach den Eltern der gesamte Unterhaltsaufwand und nicht bloß der behinderungsbedingte Mehrbedarf zu ersetzen ist. Eine "Judikaturwende" sei das Urteil dennoch, als dabei erstmals eine nicht entdeckte Fehlbildung mit einer misslungenen Sterilisation gleichgesetzt worden sei, so der OGH: In beiden Fällen wäre die Geburt des Kindes unterblieben, hätte der Arzt nach Regeln ärztlicher Kunst gehandelt.
Mit dem OGH-Urteil flammt erneut die Debatte auf, ob die Existenz eines Kindes zwar bejaht, der materielle Aufwand, den seine Existenz bedeutet, aber als "Schaden" definiert werden kann. Es sei keineswegs verwunderlich, dass diese Trennung in der Öffentlichkeit kaum nachvollziehbar ist, kommentierte IMABE-Direktorin Kummer das Urteil. "Übrig bleibt in der Wahrnehmung, dass das behinderte oder nicht-gewollte Kind einen Schaden darstellt, während seine Nicht-Existenz offenbar ein Nutzen wäre." Die Zulassung des Schwangerschaftsabbruchs in Österreich vor 50 Jahren, mit der auch die Abtreibung eines Kindes aufgrund einer Behinderung erlaubt wurde, habe gesamtgesellschaftlich dazu beigetragen, ein Kind als Schaden zu definieren und ihm unter bestimmten Bedingungen das Lebensrecht abzusprechen, so Kummer.
Schlechterstellung bei "Lebensbejahung"
Als "absurd" bezeichnet die Ethikerin zudem den Umstand, dass jene "Eltern, die ihr behindertes Kind annehmen, ohne eine Abtreibung in Erwägung zu ziehen, nun ungleich schlechter dastehen, was den Anspruch auf finanziellen Ausgleich anlangt als jene, die von vorneherein sagen: 'Wir hätten das Kind bei Behinderung abgetrieben, jetzt müssen wir für es sorgen'". Es dürfe nicht sein, dass man "für Lebensbejahung benachteiligt wird", so Kummer. Im Sinne des Wohls der Kinder wäre vielmehr die Schaffung gesetzlicher Regelungen wichtig, "damit es für alle betroffenen Familien mit beeinträchtigten Kindern Unterstützung gibt - unabhängig davon, ob eine Abtreibung in Betracht gezogen worden ist oder nicht".
Vorschläge für eine solche Regelung lägen schon lange vor, verwies die IMABE-Direktorin auf ein Konzept aus dem Jahr 2011. Damals hatte die Österreichische Gesellschaft für Prä- und Perinatale Medizin einen Fonds angeregt, der an Eltern behinderter Kinder Zahlungen leistet, ohne die Ärzte dabei aus "verhältnismäßiger" Haftung zu entlassen. Betroffene Paare sollten sich außergerichtlich an den Fonds wenden können, der dann auch die Prüfung der Haftungsfrage der Gynäkologen übernehmen und Regressforderungen an den Arzt stellen würde. Zivilrechtliche Klagen wären bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit auch weiterhin möglich. "Der Vorteil wäre auch, dass die Hilfe schneller beim Kind ankommt", so Kummer.
"Aktion Leben" für "Paradigmenwechsel"
Auch die "Aktion Leben" sah durch die aktuellen Urteile die Vorstellung von Kindern als "Schadensfall" verstärkt - zumindest "durch die Hintertür". Die Illusion, jedes Kind müsse ein Wunschkind sein und Schwangerschaften seien vollständig planbar, werde genährt, warnte der Präsident der überkonfessionellen Vereins, Johann Hager, in einer Aussendung vom Dienstag. Indem man Eltern nahelege, bei unerwünschten Geburten nach misslungenen Eingriffen zur Verhütung zu klagen, werde zudem den Kindern das "verheerende Signal: Ihr wart nicht willkommen" gegeben.
Hager rief den Gesetzgeber zu einem "Paradigmenwechsel" auf: Die vom OGH geforderte rechtliche Sonderlösung solle einem "anderen, solidarischen Kurs" folgen, welche dem Menschen immer Wert zugestehe. "Eugenisches Gedankengut - wie im Fall von wrongful birth - darf in unserer Gesellschaft keinen Platz haben. Kommen Kinder ungeplant ins Leben ihrer Eltern, ist dies eine große Herausforderung, die aber bewältigt werden kann", so der "Aktion Leben"-Präsident.
Konkret sollten Ärzte nur dann haften, wenn sie eine Behinderung verursacht haben. Statt Schadenersatz sei solidarische Unterstützung der Gesellschaft nötig - für Kinder und ihre Eltern, sofern sie Hilfe benötigten. Eine einzige zuständige Anlaufstelle sollte für Eltern behinderter Kinder geschaffen werden, wo alle Behördenwege erledigt werden könnten. Weiters forderte die "Aktion Leben" auch, die Folgen dieser Urteile zu evaluieren - betreffend der angstbestimmte Risikoinformation in der Schwangerenvorsorge ebenso wie auch für die verurteilten Ärzte. In der Bürgerinitiative "Mit Kindern in die Zukunft" (2009) hatten bereits 62.550 Unterzeichnern diese Forderungen unterstützt.
Quelle: kathpress