Fünf Jahre nach Dammbruch: "Verbrechen in Brumadinho geht weiter"
Auch am fünften Jahrestag der verheerenden Dammkatastrophe von Brumadinho vom 25. Jänner 2019 bleiben deren Folgen für die im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais liegende Region allgegenwärtig und Gerechtigkeit für die Opfer bleibt ein Wunschdenken. "Die Umwelt ist verseucht, die Bevölkerung ist krank, die meisten Betroffenen wurden noch nicht entschädigt und die Gerichtsprozesse gegen die beteiligten Firmen in Brasilien und Deutschland kommen nicht voran", fasste die Menschenrechtsaktivistin Marina Oliveira die Lage im Interview mit der Nachrichtenagentur Kathpress zusammen.
Oliveira stammt selbst aus Brumadinho. Das Miterleben der Katastrophe und der Verlust von Verwandten und Freunden motivierten die inzwischen 28-Jährige, sich für die Aufarbeitung des Geschehens und für andere vom Bergbau betroffene Gemeinden einzusetzen - wissenschaftlich, in kirchlichen und zivilgesellschaftlichen Vereinen sowie als Beraterin der Bischöfe Lateinamerikas. Die französische Regierung verlieh ihr dafür im Dezember den renommierten "Prix des droits de l'Homme 2023". Er ergeht an Menschen, die sich - oft unter Einsatz ihres Lebens - für Menschenrechte und die Umwelt engagieren.
"Bis heute ist der 25. Jänner für uns in Brumadinho ein Trauma", berichtete Oliveira. Als damals um 12.28 Uhr das Abraumbecken der Eisenerzmine "Corrego do Feijao" brach, ergoss sich eine Schlammlawine von 13 Millionen Kubikmetern mit toxischen Schwermetallrückständen oberhalb der Kleinstadt südöstlich von Belo Horizonte. Sie verschüttete Bergarbeiter wie auch etliche Bewohner, wobei 272 Menschen - die Betroffenen rechnen auch zwei noch ungeborene Kinder dazu - den Tod fanden. Drei Menschen wurden noch immer nicht gefunden unter den teils meterdicken Schlammschichten, die weiterhin das Wasser des örtlichen Flusses Rio Paraopeba trüben.
Weitreichende Folgen
Fünf Jahre später sieht man auch Langzeitfolgen der Kontaminierung: "26 Gemeinden mit insgesamt einer Million Menschen sind beeinträchtigt, vor allem die Kinder. Durch die Verseuchung des Wassers haben wir hohe Schwermetallwerte im Körper, besonders Arsen, Blei, Cadmium und Mangan. Selbst bei den Kindern unter sechs Jahren ist jedes zweite betroffen", schilderte Oliveira. Die Zahl der Atemwegs- und Hauterkrankungen sei explodiert, Depressionen mit 70 Prozent enorm hoch und es gebe selbst unter Jugendlichen und Kindern viele Suizide. Die lokalen Behörden würden alles daransetzen, diese Folgen zu vertuschen.
Besonders schändlich ist laut der Aktivistin das Verhalten der beteiligten Firmen. Zu nennen sei hier vor allem die Betreiberfirma Vale, die mit 54 Milliarden US-Dollar Jahresumsatz zu den drei größten Bergbaukonzernen der Welt zählt. Probleme mit dem Staudamm waren schon vor dem Unglück bekannt, dennoch genehmigte die deutsche TÜV Süd bei einer Inspektion Ende 2018 entgegen allen Zweifeln den Betrieb - um ihre Geschäftsverbindungen zu Vale zu stärken, so lautet der Vorwurf. In den Strafprozessen in Brasilien und München - angeklagt sind 16 Personen wegen fahrlässiger Tötung und Umweltverbrechen - schieben beide Firmen einander die Schuld zu, zum Leidwesen der Opfer.
Gemeinsames Einstehen für Rechte
Der Gerechtigkeit geschuldet wären einerseits Entschädigungen. Vale einigte sich mit der Regierung des Bundesstaates Minas Gerais 2021 auf einen Rekord-Schadenersatz für lateinamerikanische Verhältnisse von umgerechnet knapp 6 Milliarden Euro. Ein Großteil davon ging an Infrastruktur-Projekte in der Region, nur ein winziger Bruchteil an die Opfer - wobei es Auszahlungen nur für Einzelpersonen gab, während man eine Kollektiventschädigung für den ganzen Ort vermied. "Die Firma Vale wollte so einen Präzedenzfall verhindern. "Wer sich dagegen wehrt, wird eingeschüchtert, kriminalisiert, verfolgt und manchmal sogar getötet", berichtete die junge Menschenrechtlerin, die wegen ihres Einsatzes auch bereits selbst Bedrohungen ausgesetzt war.
Notgedrungen hätten sich deshalb die Bewohner Brumadinhos zusammengeschlossen, um für die Verteidigung ihrer Rechte auf sauberes Wasser und gesunde Böden sowie vor allem die Wahrung der Menschenwürde der Minenarbeiter gemeinsam einzustehen. Den Rahmen dafür bieten die örtlichen Kirchengemeinden, in denen schon zu Beginn alle Hilfsmaßnahmen gemeinsam mit der Caritas koordiniert worden waren. Der Kontakt mit Betroffenen-Gruppen anderer Minenstädte habe ihr gezeigt, dass Brumadinho "kein Sonderfall" ist, sagte Oliveira. "Das Verbrechen geht weiter und wiederholt sich tagtäglich an vielen Orten."
Die Gefahr weiterer ähnlich verheerender Dammbrüche sei enorm, gebe es doch allein im Bundesstaat Minas Gerais 40 Staudämme, die als noch instabiler gelten, als man einst jenen von Brumadinho einschätzte. In der Stadt Mariana, gut 100 Kilometer weiter östlich, brach bereits 2015 ein noch größeres Rückhaltebecken. Überall werde, um möglichst billig zu erzeugen und den Profit zu maximieren, der Tod von Menschen und die Zerstörung der Natur in Kauf genommen. Das sei ihr bei der Lektüre der Papst-Schreiben "Laudato si" und "Laudate Deum" sowie der Texte der Amazonien-Synode bewusst geworden, sagte die Aktivistin. "Man raubt späteren Generationen deren Recht auf Leben."
Europas Schlüsselrolle
Immer noch gibt es in Brumadinho jeden 25. des Monats zu Mittag eine Mahnwache im Gedenken an die Katastrophe und zum Jahrestag eine "Wallfahrt für integrale Ökologie". Bei dieser "Romaria" werden auch für kommenden Donnerstag mehrere tausend Menschen erwartet. Mit jedem Jahr wird das Erinnern jedoch mühsamer: Die Fortschritte sind spärlich, die Straflosigkeit scheine sich angesichts der sich schleppenden Prozesse fortzusetzen, was die Menschen mürbe mache. Praktisch wie auch ideell wichtig ist deshalb Rückhalt von außen, unter anderem aus Österreich: So liefert etwa die Dreikönigsaktion Unterstützung für die juristischen Kosten der zivilgesellschaftlichen Betroffenen-Gruppen und beschäftigte sich mit einer Fallstudie eingehend mit dem Thema. Auch der für Weltkirche-Angelegenheiten zuständige Bischof Werner Freistetter stattete dem Bergbauort noch 2019 einen Solidaritätsbesuch ab.
Europa ist im Kampf um gerechtere Bedingungen am Amazonas ein wichtiger Mitspieler, betonte Oliveira. "Viele Entscheidungen, die uns in Brasilien betreffen, werden in Europa, Nordamerika oder Australien getroffen. Wenn die EU als größter Wirtschaftsblock Gesetze erlässt, strahlt das auch auf uns aus." Insofern sei das jüngst beschlossene EU-Lieferkettengesetz "zumindest ein guter Beginn", wenngleich besser auch der Finanzsektor berücksichtigt hätte werden sollen, "denn Vale bekommt viele Finanzmittel aus der EU". Sinnvoll sei jedenfalls, die Wertschöpfungsketten genauer anzusehen, unterstrich die Menschenrechtlerin; nicht zuletzt importiere auch Österreich für seine Stahlerzeugung brasilianisches Eisenerz.
Quelle: kathpress