Jäggle: Antisemitismus untergräbt die Demokratie
"Antisemitismus mit seinen vielen Gesichtern diskriminiert und bedroht Jüdinnen und Juden. Er vergiftet die Gesellschaft, untergräbt die Demokratie und ist im Widerspruch zum christlichen Glauben." - Das hat der Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Prof. Martin Jäggle, im Kathpress-Interview betont. Er zeigte sich bestürzt, dass seit dem 7. Oktober verstärkt polizeiliche Maßnahmen zur Sicherung jüdischen Lebens in Österreich notwendig seien und unterstrich: "Jüdisches Leben ohne Angst ist ein wichtiger Indikator für die Humanität einer Gesellschaft."
Zur Frage, wie es möglich sei, dass antisemitische Äußerungen bzw. Aktionen zuletzt auch in Österreich wieder zugenommen haben, sagte Jäggle: "Es hat lange, viel zu lange gedauert, bis Gesellschaft und Politik begonnen haben, sich der Shoah und ihren Folgen zu stellen." Der Antisemitismus, der den Boden dafür bereitete, "blieb mehr oder weniger unbeachtet, vielleicht in der Hoffnung, er würde sich von selbst erledigen".
Jäggle weiter wörtlich: "Anstatt in einer gemeinsamen Anstrengung den Antisemitismus zu entsorgen, ihn auf den Misthaufen der Geschichte zu werfen und dort gewissermaßen zu kompostieren, sanken viele seiner Formen in den Schlamm ab. In turbulenten Zeiten wird das Abgesunkene, nicht mehr Sichtbare, wieder aufgewühlt und treibt neue Blüten."
Im Kampf gegen Antisemitismus sah Jäggle alle gesellschaftlichen Kräfte, die Politik wie auch die Kirchen bzw. Religionen gleichermaßen gefordert. Die "Nationale Strategie gegen den Antisemitismus" der Bundesregierung und die Etablierung des "Nationalen Forums gegen Antisemitismus" sei zwei politische und gesellschaftliche Meilensteine, die nicht genug gewürdigt werden könnten.
Medien und Bildungseinrichtungen müssten dabei besonders in den Blick genommen werden, so Jäggle weiter. Die Schulen würden sich im Kampf gegen Antisemitismus durchaus engagieren, aber nur an Katholisch-theologischen Fakultäten sei eine "Einführung in das Judentum" eine Pflichtlehrveranstaltung. "Wie kann man sich erfolgreich gegen Antisemitismus einsetzen, ohne ein grundlegendes Verständnis des Judentums zu haben?", so Jäggle.
"Lehre der Verachtung"
Im Blick auf die Schuldgeschichte des Christentums verwies Jäggle auf den jüdischen Historiker Jules Isaac, der von einer "Lehre der Verachtung" gesprochen habe. Durch Jahrhunderte habe diese "Lehre der Verachtung" gegenüber dem jüdischen Volk christliche Frömmigkeit und Alltag geprägt. - "Mit fürchterlichen Auswirkungen - bis heute."
Die Kirchen würden Antisemitismus eindeutig als "Sünde" verurteilen, aber die vielfältigen Nachwirkungen der "Lehre der Verachtung" in Spiritualität, Bildsprache, Theologie, Predigt und Verkündigung zu erkennen und produktiv zu bearbeiten, wäre als Aufgabe der Kirchen und der Theologie auf die Prioritätenliste zu setzen, mahnte Jäggle ein.
Der Präsident des Koordinierungsausschusses verwies u.a. auf den Linzer Bischof Manfred Scheuer, der immer wieder betone, dass "Jesus für Christen ohne sein Judentum nicht zu haben" sei. Wer den Glauben Jesu versteht, werde "dankbar sein für alles, was Christinnen und Christen dem jüdischen Volk verdanken", so Jäggle. Nachsatz: "Damit wäre jeder Form der Ablehnung und Abwertung des Judentums der Boden entzogen."
Der Koordinierungsausschuss bemühe sich, die Verbundenheit mit den jüdischen Gemeinden verstärkt zu leben und öffentlich zum Ausdruck zu bringen. Es gelte, "deutlich zu machen, wie sehr Judenfeindschaft und Judenhass Verbrechen gegen die Menschlichkeit fördern." Jäggle erinnerte auch daran, dass er gemeinsam mit Vizepräsidentin Margit Leuthold angesichts des 7. Oktober verlangt habe: "Wir sind als Zivilgesellschaft aufgerufen, Perspektiven und Beispiele des Zusammenlebens für das 21. Jahrhundert zu entwickeln, zu stärken".
Gegen christlichen Antisemitismus
Der Koordinierungsausschuss wolle sich auch noch stärker der Aufgabe widmen, Quellen bzw. Sümpfe von Judenfeindschaft und Antisemitismus trockenzulegen, die sich christlich nennen. Das betreffe, so Jäggle, besonders Online-Angebote.
Als negatives Beispiel nannte der Präsident des Koordinierungsausschusses die Auslegung der Rede des Stephanus auf der Website www.bibelkommentare.de. Diese sei "eindeutig judenfeindlich". Ein positives Gegenbeispiel sei die Initiative "Mit Israel lesen" des Schweizerischen Katholischen Bibelwerkes.
25. Auflage des "Tages des Judentums"
Erfreut zeigte sich Jäggle über die Entwicklung der Initiative "Tag des Judentums". Den Tag des Judentums gibt es seit 2000, er wird heuer zum 25. Mal begangen. Die Bedeutung des "Tag des Judentums" sei auch dadurch gestiegen, dass er immer mehr Aufmerksamkeit auf lokaler Ebene gewonnen habe.
Freilich gebe es noch Luft nach oben. Jäggle verwies auf die Vorbereitungen zum heurigen "Tag des Gedenkens" (16. Jänner), der in Wien der ehemaligen Simmeringer Synagoge gewidmet ist. Dabei habe das Vorbereitungsteam erfahren, "dass viele in Simmeringer Pfarren Angst haben, sich öffentlich erkennbar daran zu beteiligen".
Quelle: kathpress