"Gründergestalt"
Leonardo Boff wird 85
"Gründergestalt"
Leonardo Boff wird 85
Als eine der großen Gründergestalten der lateinamerikanischen Befreiungstheologie und Vordenker in Sachen Klimakrise hat die in El Salvador lebende und lehrende heimische Ordensfrau Martha Zechmeister den brasilianischen Theologen Leonardo Boff gewürdigt. Der Autor und ehemalige Franziskaner wird am 14. Dezember 85 Jahre alt. Boffs Theologie habe und hatte "Sprengkraft", betonte Zechmeister im Kathpress-Interview. Sei es seine Kritik an kirchlichen Hierarchien, die Forderung nach Gerechtigkeit oder sein Einsatz für soziale Bewegungen und die Umwelt, Boffs Ziel sei bis heute, die "befreiende Botschaft" der Bibel und des Glaubensbekenntnisses herauszustreichen, so Zechmeister.
Auch wenn die Befreiungstheologie fast vergessen scheine, böten Boffs Forderungen nach einem sorgsamen Umgang mit anderen und der Welt Anhaltspunkte für jüngere Öko-Bewegungen wie "Fridays for Future" oder "Die letzte Generation", meinte die Ordensfrau. Ihnen gemeinsam sei ein prophetischer Blick in die Zukunft und die Gewissheit, dass es radikale Änderungen benötige, um das Überleben der Menschheit zu sichern, konstatierte die in El Salvador lebende Theologin aus der Gemeinschaft "Congregatio Jesu", die ebenfalls in der Tradition der Befreiungstheologie steht.
Gemeinsam mit anderen Befreiungstheologen wie Gustavo Gutierrez (95), Jon Sobrino (84) und Juan Luis Segundo (1925-1996) forderte Boff ab den 1960er-Jahren eine radikale Wende im Denken der katholischen Kirche: Weg von den Bündnissen mit der herrschenden Klasse, hin zur Option für die Armen und Ausgestoßenen. "Es ging ihnen weniger um eine klassische theologische Argumentation, sondern immer um die zentrale Botschaft des Reiches Gottes, die jetzt in die Welt kommen will, damit die Welt für alle, aber besonders für die Armen, lebenswert wird und bleibt", erklärte Zechmeister, die mit Boff eine langjährige Freundschaft verbindet.
Der 1938 im südbrasilianischen Bundesstaat Santa Catarina als Sohn italienischer Einwanderer geborene Boff trat 1958 in den Franziskanerorden ein. Er studierte Theologie und Philosophie, unter anderem im belgischen Löwen und in München. Boff besuchte während seiner Studienzeit in Deutschland auch Vorlesungen des damaligen Dogmatik-Professors Joseph Ratzinger; der deutsche Theologe und spätere Papst Benedikt XVI. war Zweit-Gutachter der Promotion des Brasilianers und half bei der Finanzierung seiner Habilitationsschrift. 1964 wurde Boff zum Priester geweiht.
"Kirche, Charisma und Macht"
Zum Verhängnis wurde Boff aber weniger sein Einsatz für die Armen oder in den kirchlichen Basisgemeinden Brasiliens, sondern seine Auslegung der Trinität in seinem Werk "Kirche, Charisma und Macht", erklärte Zechmeister. In dem 1981 erschienenen Buch kritisierte er hierarchische und feudalistische Kirchenstrukturen. Vielmehr sollte die Kirche Ausdruck der egalitären Beziehung der Trinität - also der Wesenseinheit Gottes in drei Personen, nämlich Vater, Sohn und Heiliger Geist - sein: Sie sollte laut Boff "die Gleichheit der Menschen in eine 'menschliche Wirklichkeit' und in der Organisation der Kirche ausdrücken", erläuterte die Theologin.
Boffs Kritik an der "Machtstruktur" der Kirche habe zum offenen Konflikt geführt, meinte Zechmeister. Ratzinger - inzwischen Kardinal und Präfekt der Römischen Glaubenskongregation - leitete 1984 ein Verfahren gegen ihn ein. Der Vorwurf: Boff leugne in "Kirche, Charisma und Macht" dogmatische Wahrheiten und verwässere die Sakramentenlehre. Zudem stand immer wieder ein Marxismusvorwurf im Raum, pflegte Boff doch Kontakte zu kommunistischen Politikern in Havanna und Moskau. In Folge wurde Boff für ein Jahr mit einem Rede- und Lehrverbot belegt, einem sogenannten "Bußschweigen".
Trotz der kirchlichen Bestrafung wandte sich Boff nicht von der Kirche ab, sondern blieb Theologe. 1992 verließ er allerdings den Franziskanerorden, wurde laisiert und nahm eine Ethik-Professur an. Seither lebt er mit der Menschenrechtsaktivistin Marcia Miranda und deren Kindern und Enkeln zusammen. Bis heute ist der Mann mit dem weißen Vollbart aktiv: Auf seinem Blog leonardoboff.org veröffentlicht er regelmäßig Kommentare zum politischen Alltag in Brasilien, gibt Interviews und schreibt für kirchliche Zeitschriften, darunter auch das österreichische Nachrichtenmagazin "Kirche In". Ferner hat er rund 90 Bücher publiziert.
Kritik an Priesterschaft
Hand in Hand mit der Kritik an kirchlichen Hierarchien geht laut Zechmeister auch Boffs neu interpretierte Mariologie. Boff vertrete die Ansicht, "dass sich Gott nicht durch Jesus als Mann inkarniert hat, sondern durch Maria und Jesus Mensch geworden ist". Die Menschwerdung Gottes durch Mann und Frau - also nicht in Jesus allein - stelle jene infrage, die "das Mannsein Jesu bis heute als Argumentation für die rein männliche katholische Priesterschaft hernehmen", erklärte Zechmeister.
Es gehe Boff und anderen Befreiungstheologen aber weniger um eine mögliche Priesterweihe von Frauen oder europäisch-feministische Theologie, sondern "um eine echte jesuanische Geschwisterlichkeit", merkte Zechmeister an. Und weiter: "Ziel ist nicht, dass Frauen das haben, was Männer haben, um wieder die gleichen feudalen Hierarchien weiterleben zu können, sondern dem anderen gerecht zu werden", so die Ordensfrau. Immer wieder dränge der brasilianische Ethiker und Theologe zu Respekt ohne Rangordnung. Für eine Kirche, die "noch immer einem feudalen System gleicht", sei dies "natürlich eine Bedrohung".
Ökologische Theologie
Ein Vordenker sei Boff auch beim Thema Ökologie gewesen, die er als einer der Ersten mit der Frage nach der Gerechtigkeit in Verbindung gebracht habe, sagte Zechmeister. Seine Theologie habe auf eine Überwindung einer vermeintlichen Rangordnung zwischen Mensch und Erde, aber auch zwischen Arm und Reich abgezielt. Denn: "Wenn wir die Erde zerstören, sind die ersten Betroffenen die Armen". Bis heute fordere Boff, "dass wir das Problem der Klimakrise an der Wurzel packen müssen", so die Ordensfrau. Für den reichen Norden sei dies unangenehm - "denn das Fahren eines Elektroautos oder Mülltrennung allein reicht nicht".
Im 2002 veröffentlichten Buch "Schrei der Erde - Schrei der Armen" entwickelte Boff eine "Ökotheologie", die den Menschen in engster Verbundenheit zur Welt versteht und erneut vorherrschende Hierarchien kritisiert. Auch in die Umweltenzyklika "Laudato si" (2015) von Papst Franziskus flossen einige Ideen des brasilianischen Theologen ein, der vor wenigen Wochen mit "Terra madura" (Reife Erde) erneut ein Buch über die Grundfrage der ökologischen Theologie publizierte. In "Kirche In" (Ausgabe 12/2023) schrieb er über Verantwortungslosigkeit der Menschen und Staaten mit der "Mutter Erde".
Boffs Verknüpfung von Ökologie und Gerechtigkeit sei angesichts der vielen Naturkatastrophen "aktueller denn je", befand Zechmeister. Und weiter: "Vielleicht ist die Befreiungstheologie ja wirklich tot, aber die Frage nach Gerechtigkeit ist noch lange nicht gelöst." Von letzterer könnte gar die Zukunft der Menschheit abhängen.
Quelle: Kathpress