Als die Fristenregelung Österreich spaltete
Genau 50 Jahre ist es her, dass am 29. November 1973 der österreichische Nationalrat die sogenannte "Fristenreglung" beschloss. Das Gesetz, mit dem Abtreibungen bis zum dritten Schwangerschaftsmonat auch ohne Begründung straffrei sind, war von einem politischen wie auch juristischem Kampf unter Beteiligung breiter Teile der Bevölkerung begleitet. Die Auseinandersetzung darüber hat einst das Land gespalten wie kaum eine andere im Lauf der Zweiten Republik und hält im Grunde bis heute an - wenngleich mit unterschiedlicher Intensität und Formulierung im Laufe der Jahrzehnte.
Die nähere Vorgeschichte der Fristenregelung - von Befürwortern "Fristenlösung" - genannt - begann im Jahr 1970, als zeitgleich zu ähnlichen Bestrebungen in zahlreichen anderen Ländern Europas und der Gründung der Frauenbewegung die gerade erst zum Wahlsieger emporgekommene SPÖ unter Bundeskanzler Bruno Kreisky eine Minderheitsregierung bildete. Justizminister Christian Broda nahm die schon seit 1954 laufende Arbeit an der Strafrechtsreform auf und verwarf den Entwurf der vorhergehenden ÖVP-Regierung, welche zum Thema Abtreibung noch Verhandlungsergebnisse mit der Bischofskonferenz berücksichtigt hatte.
Brodas im Jänner 1971 präsentierter Entwurf sah Straffreiheit für Abtreibung der Leibesfrucht ab der Einnistung des befruchteten Eis bei Vorliegen einer erweiterten medizinischen Indikation - es gab dabei eine sozialmedizinische, ethische und eugenische Komponente - vor und setzte das Strafausmaß auf ein Jahr herab. Wochen bevor Brodas Entwurf am 16. November 1971 im Nationalrat eingebracht wurde, erzielte die SPÖ bei erneuten Nationalratswahlen die absolute Stimmenmehrheit, was eine Umsetzung wahrscheinlicher machte.
Während die ÖVP dem damaligen Entwurf geneigt schien, wehrte sich die katholische Kirche vehement gegen die SPÖ-Pläne, wobei auf das Lebensrecht auch von wehrlosen ungeborenen Kindern verwiesen wurde; Abtreibung sei immer Tötung eines Menschen, hieß es, zudem würde die schon bisher laxe Handhabung der Gesetze nun noch zunehmen. Im Juni 1971 wurde unter der Leitung des damaligen Präsidenten der Wiener Katholischen Aktion, Walter Csoklich, das "Aktionskomitee zur Gesamtreform des Strafrechts" gegründet. Sie organisierte ab August eine Informationskampagne unter dem Titel "Aktion Leben" zur Strafrechtsreform und sammelte bis Juni 1972 über 800.000 Unterschriften für den Schutz ungeborenen Lebens.
Doch auch in der SPÖ gab es Widerstand gegen die Indikationenlösung, wenngleich dieser in völlig andere Richtung zielte. Ende 1971 schloss sich eine kleine Gruppe von Frauen um Eva Kreisky, Rosemarie Fischer und Renate Obadalek zur Aktionsgemeinschaft zur Abschaffung des damals maßgeblichen § 144 zusammen und starteten ihrerseits eine Öffentlichkeitskampagne für straffreie Abtreibung bis zum dritten Monat. Die SPÖ war sich zunächst im Umgang mit der Gruppe uneins, lud sie dann aber auf Anraten von Minister Broda und Heinz Fischer zu Beratungen des parlamentarischen Unterausschusses ein und stellte sich am Parteitag im Villach im April 1972 hinter sie. Bereits kurz zuvor hatte sich auch die SPÖ-Bundesfrauenkonferenz geschlossen hinter die Forderungen der Gruppe gestellt.
Neufassung mit Drei-Monats-Frist
Nach der Anhörung im Unterausschuss, bei dem auch die "Aktion Leben" und die Katholische Aktion Österreich vertreten waren, brachten SPÖ-Abgeordnete einen Abänderungsantrag zum eigenen Gesetzesvorschlag im Sinne einer "Fristenlösung" ein. Der Justizausschuss begründete seine Genehmigung damit, dass Abtreibungen zwar weder gesellschaftlich erwünscht noch zur Geburtenregelung medizinisch empfehlbar, Androhungen hoher Strafen aber dennoch unangebracht seien. Frauen sollten eine überlegte und vor allem eigenständige Entscheidung treffen können - und Abtreibungen nicht mehr bloß bei medizinischer oder eugenischer Indikation straffrei sein, sondern künftig auch innerhalb einer Frist von drei Monaten.
Begleitet von Mahnungen der Bischofskonferenz, wurde die Regierungsvorlage im November 1973 dem Nationalrat zur Beschlussfassung vorgelegt, wobei Abänderungsanträge der ÖVP und der FPÖ - mit Forderungen wie Gutachten einer öffentlichen Anstalt als Vorbedingung einer Straffreiheit für Abtreibung, sowie garantierte Gewissensfreiheit für Ärzte - aufgrund numerischer Unterlegenheit wenig Chancen hatten. Die dreitägige Debatte führte am 29. November 1973 mit den 93 Stimmen der SPÖ gegen 88 von ÖVP und FPÖ zum Beschluss der neuen Strafrechtsnovelle, für die es dann keine Abänderungsanträge der Opposition mehr gab.
Eingehend auf die heftige Opposition im Parlament als auch in der Kirche erklärte Kanzler Kreisky bei der Beschlussfassung vor dem Nationalrat, man müsse "alles tun, um im Bereich der Politik diesen ganzen Paragraphen so obsolet zu machen, wie dies mit den Mitteln der Politik, der Psychologie und auch der Moral nur geht, um die Frau zu veranlassen, dass sie dann, wenn sie empfangen hat, das Kind behält. Deshalb glaube ich, dass man alles, wirklich alles tun muss, um den Menschen die Möglichkeit zu geben, Kinder zu haben."
Flankierende Maßnahmen
Sicherstellen sollten dies vor allem die "flankierenden Maßnahmen", die in derselben Nationalratssitzung in einem Entschließungsantrag einstimmig beschlossen wurden. Selbst Minister Broda erklärte später im Bundesrat, er lehne den Begriff "flankierend" ab, da es sich bei diesen "positiven Maßnahmen" um die "eigentlichen, wirklichen Maßnahmen" zum Thema Schwangerschaftsabbruch handle.
Konkret gehörten dazu etwa die verstärkte Aufklärung über Empfängnisverhütung durch Sexualerziehung an Schulen, der Ausbau sowie die Propagierung und Förderung der Familienberatungsstellen, die Erleichterung der Adoptionsmöglichkeiten, die Erhöhung der Geburtenbeihilfe und des Karenzgeldes, der Neubau und Ausbau von Kindergärten, sowie schließlich die Schaffung von modernen Sozialhilfegesetzen, worin insbesondere Hilfsmaßnahmen für werdende Mütter vorzusehen seien, wie es hieß.
Freilich: Mehr als um ein "Ersuchen" an die Bundesregierung, solche Maßnahmen vorzubereiten und durchzuführen sowie auch die Länder und Gemeinden zu diesen Vorhaben zu drängen, handelte es sich dabei nicht. Begründet wurde dieser Entschluss des Nationalrates mit der "Tatsache, dass der Schwangerschaftsabbruch weder eine gesellschaftlich wünschenswerte noch eine medizinisch empfehlenswerte Methode der Geburtenkontrolle oder der Familienplanung ist", sowie auch, "dass der Schwangerschaftsabbruch von der Strafgesetzgebung her allein nicht wirksam genug verhindert werden kann".
Flankierende Maßnahmen hin oder her: Die hitzigen Diskussionen über die Fristenregelung im ÖVP-dominierten Bundesrat waren bereits vorprogrammiert, der sich am 6. Dezember 1973 mit der Novelle befasste und den Nationalratsbeschluss mit 29 gegen 28 Stimmen beeinspruchte. Darüber beriet am 15. Jänner 1974 der Justizausschuss, der dem Nationalrat einen Beharrungsbeschluss empfahl - was dieser mit 92 Ja- gegen 89 Nein-Stimmen dann auch umsetzte und den ursprünglichen Gesetzesbeschluss verabschiedete.
Strafloser Gesetzesbruch
Damit konnte am 1. Jänner 1975 die neue Fristenregelung in Kraft treten. Das Strafgesetzbuch regelt seither, dass Personen für die Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs mit Einwilligung der Schwangeren mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr - im Falle von Gewerbsmäßigkeit bis zu drei Jahren - zu bestrafen sind, darunter auch die Frau selbst (Paragraph 96).
Paragraph 97 schränkt jedoch ein, dass die Strafe innerhalb der ersten drei Schwangerschaftsmonate nach ärztlicher Beratung und unter Durchführung eines Arztes sowie auch unter bestimmten anderen Bedingungen straffrei ist. Zu letzterem zählen u.a. die Abwendung einer nicht anders abwendbaren Gefahr für das Leben oder eines schweren Schadens für die körperliche oder seelische Gesundheit der Schwangeren, wie auch die ernste Gefahr einer geistigen oder körperlichen schwer Schädigung des Kindes, sowie auch, wenn die Schwangere zur Zeit der Schwängerung unmündig war.
Festgehalten wird weiters auch, dass kein Arzt verpflichtet ist, einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen oder an ihm mitzuwirken, sofern es nicht um die Abwendung einer Lebensgefahr für die Schwangere geht. Wer eine straflose Abtreibung durchführe, daran beteiligt sei oder aber die Durchführung oder Mitwirkung an einer Abtreibung verweigere, dürfe dafür nicht benachteiligt werden, heißt es schließlich in einer weiteren Bestimmung. Über etwaige vorgeschriebene Wartezeiten, Beratungen in einer Beratungsstelle, inhaltliche Vorgaben für die ärztliche Beratung oder auch die Angabe von Gründen seitens der Frau schweigt das Gesetz.
Vergebliche Anläufe zur Aufhebung
Weitere Anläufe zu einer Revidierung des Beschlusses verliefen allesamt ohne Erfolg. So bemühte sich etwa die Salzburger Landesregierung im Februar 1974 vergebens um eine Aufhebung von Paragraph 97 wegen Verfassungswidrigkeit - sei doch das Freiheitsrecht auf Leben und das Grundrecht auf Gleichheit vor dem Gesetz verletzt, wie man argumentierte, ebenso wie die Möglichkeit einer Abtreibung durch die Mutter ohne Zustimmung des Kindesvaters als Problem bezeichnet wurde. Die Höchstrichter wiesen dies jedoch zurück, wobei in ihrem Spruch vom 21. Mai 1974 die Frage unbeantwortet blieb, ob aus dem Grund- und Freiheitsrecht überhaupt ein Recht auf Leben ableitbar ist.
Erfolglos blieb auch ein von der "Aktion Leben" initiiertes "Volksbegehren zum Schutz des menschlichen Lebens", das Strafrechtsreform verhindern sollte und von einer äußerst emotional geführten Debatte auf beiden Seiten - von Gegnern wie Befürwortern der Fristenregelung - begleitet war. Wenngleich die Beteiligung mit 17,93 Prozent aller Wahlberechtigten die zweithöchste der Zweiten Republik bis heute war, verhinderten die politischen Machtverhältnisse jegliche Änderung. Insgesamt hatten 895.665 Personen das Volksbegehren unterstützt. Der im April 1976 eingerichtete Sonderausschuss lehnte am 28. April 1977 das Volksbegehren mit 103 gegen 75 Stimmen ab. Damals war im ersten Wiener Gemeindebezirk mit dem "Ambulatorium für Schwangerenhilfe" am Fleischmarkt bereits Österreichs erste Abtreibungsklinik in Betrieb gegangen, die bis Frühjahr 2023 in Betrieb sein sollte.
Auch ab Jänner 1984 gab es mit der "Plattform Geborene für Ungeborene" noch einen Anlauf zu einer Veränderung der Gesetzeslage. Getragen von der katholischen Jungschar, dem Kolping-Verein, den Pfadfindern, der JES, der Jungen ÖVP, dem Mittelschülerkartellverband und dem CV wurden Österreichs Abgeordnete aufgerufen, alles in ihrer Macht liegende zu unternehmen, "damit jedes in Österreich empfangene Kind seine Geburt erleben kann". Konkret wurden steuer- und sozialpolitische Maßnahmen verlangt, die Trennung der Person des beratenden Arztes von dem den Abbruch durchführenden Arzt sowie eine Abtreibungsstatistik. Die entsprechende Petition der Plattform wurde von 200.000 Menschen unterzeichnet und am 26. Oktober 1984 im Parlament übergeben, wobei die meisten Forderungen abgelehnt wurden.
Unversöhnliche Positionen
Bis heute bleibt die Entscheidung, den Schwangerschaftsabbruch straffrei zu stellen, umstritten. Die Positionen von damals sind die gleichen wie vor 50 Jahren: Befürworter verwiesen schon damals auf das Selbstbestimmungsrecht der Frauen, während die Gegner der Fristenregelung von Tötung ungeborenen Lebens sprachen. Aus Sicht der Katholischen Aktion im Jahr 1992 hat die Fristenregelung das "Tor zu einer Entwicklung geöffnet, in der das menschliche Leben immer mehr Nützlichkeitserwägungen, zum Teil in zynischer Weise, geopfert wird".
Eine große Bandbreite weisen wie schon vor der Fristenregelung die Schätzungen von Abtreibungen auf, die es in Österreich jährlich geben soll. Schon damals ging man wie heute - mittlerweile auf Basis der Angaben einiger Abtreibungsklinken - von 30.000 bis 60.000 Fällen aus, 1984 hatten führende Gynäkologen die Zahl sogar mit 90.000 angesetzt, wodurch auf jede Lebendgeburt eine Abtreibung gekommen wäre. Auch bei Zutreffen der niedrigen Schätzung wäre Österreich ein Land mit äußerst hohen Abtreibungszahlen. Verlässliche Angaben fehlen allerdings, da es - im Unterschied zu allen anderen EU-Ländern außer Luxemburg - keine offiziellen Schwangerschaftsabbruchs-Statistiken gibt und damit auch keine Informationen, die für eine gezielte Besserung der Rahmenbedingungen notwendig wären.
Quelle: kathpress