Glettler: Wachsender Antisemitismus erfordert heute Zivilcourage
"85 Jahre nach dem Novemberpogrom nimmt das hässliche Geschwür des Antisemitismus in unserem Land wieder neue Dimensionen an": Diese Sorge über die Folgen des Hamas-Terrors äußerte der Innsbrucker Bischof Hermann Glettler am Freitag bei einer Podiumsdiskussion in der Tiroler Landeshauptstadt. Thema des Gesprächs, zu dem Glettler in das Haus der Begegnung eingeladen hatte, war "Zivilcourage heute". Auch anhand von Filmbeispielen über Widerstandsformen zur Zeit der Nazi-Diktatur sollte dabei ein "Lernen von den Mutigen" angestoßen werden.
Die aktuellen Auswüchse von Gewalt und Extremismus erfordern ein starkes zivilgesellschaftliches Engagement. Bürgerlicher Mut und die Bereitschaft zum Dialog sind gefragt: Darüber waren sich die Teilnehmenden an der Podiumsdiskussion einig, wie eine Aussendung der Diözese Innsbruck am Samstag zusammenfasste. Mit Bischof Glettler sprachen dabei der auch am Päpstlichen Bibelinstitut in Rom wirkende Innsbrucker Theologe Univ.-Prof. Dominik Markl, der Vorsitzende des Zukunftsfonds der Republik Österreich, Herwig Hösele, der bei der Plattform "erinnern.at" tätige Historiker Christian Mathies, der Publizist Michael J. Mayr sowie die Leiterin des Zentrums für Jugendarbeit "z6", Susanne Meier. Für die Moderation sorgte Christine Brugger von Radio Osttirol.
"Wir alle tragen eine historische Verantwortung, die uns zu größerer Sensibilität verpflichtet", erklärte Bischof Glettler vor dem Hintergrund des wachsenden Antisemitismus. Gerade der Blick auf den Widerstand in der NS-Zeit sei ein deutlicher Appell zur Wachsamkeit und der für heute nötigen Zivilcourage. Mit Blick auf den Israel-Palästina-Konflikt betonte Glettler einmal mehr die Notwendigkeit aktiver Friedensdiplomatie und des unbedingten Schutzes der Zivilbevölkerung: "Eine überlebensnotwendige humanitäre Hilfeleistung für die Leidtragenden im Kriegsgebiet darf keinem Kriegskalkül geopfert werden."
Zivilcourage rettete tausende Flüchtlinge
Jesuit Dominik Markl erinnerte an die 4300 jüdischen Flüchtlinge, die während der deutschen Besetzung Roms ab 1943 in kirchlichen Einrichtungen gerettet wurden. Die im Archiv des päpstlichen Bibelinstituts wiederentdeckte und von einem Forscherteam untersuchte Liste zeige, dass 100 Frauenorden und 55 Männerorden tausende Menschen vor den Nationalsozialisten versteckten und damit retteten. Ca. 80 Prozent der Juden in Rom hätten dank des beispiellosen Mutes von Ordensangehörigen und der Zivilcourage vieler Familien überlebt, sagte Markl.
Die Notwendigkeit, Gleichgültigkeit zu bekämpfen und eine solidarische Zivilgesellschaft zu fördern, unterstrich "Gerade in Österreich und Deutschland tragen wir eine besondere Verantwortung", betonte Herwig Hösele: "Unsere Demokratie lebt davon, dass die Menschen diskutieren, für Standpunkte eintreten, die vielleicht nicht populär sind ... Wir brauchen nicht angepasste Menschen, sondern aktive Bürger." Menschen, die sich mit Zeitgeschichte auseinandersetzen, seien statistisch nachgewiesen sensibler für Demokratiefragen und für Fragen der Menschenrechte. Deshalb ist laut Hösele beharrliche Bildungsarbeit von der Elementarpädagogik bis hinauf zur Universität unabdingbar.
Interesse von jungen Menschen wecken
Dass das Interesse von jungen Menschen am Nationalsozialismus und Holocaust durchaus gegeben sei, berichtete Christian Mathies über seine Arbeit in der historisch-politischen Bildung an Schulen. Bei der Arbeit mit Zeitzeugenberichten gelte es, "die Kinder über die Emotionen zu erreichen und zu berühren." Um Schüler für die aktuelle Konfliktsituation der Palästinenser und Juden zu sensibilisieren, sei es wichtig, nachvollziehbare Geschichten der Betroffenen zu erzählen und Begegnungen zu ermöglichen.
Publizist Michael Mayr berichtete über sein Bemühen, Berichte von Zeitzeugen für eine qualitätsvolle Erinnerungskultur lebendig zu halten. Von ihm in den 1980er-Jahren in Osttirol geführte Interviews mit Menschen, die jüdischen Flüchtlingen halfen, stellte er in seinem soeben erschienenen Film "Grenz.Leben" als KI-generierte Graphic Novel dar.
Quelle: kathpress