
Theologe: Im Nahost-Konflikt religiöse Komponente nicht übersehen
Die religiöse Komponente darf im Nahostkonflikt nicht außer Acht gelassen werden: Das hat der aus Österreich stammende Leiter des Zentrums für Islamische Theologie und Professor für Islamische Religionspädagogik an der Universität Münster, Mouchanad Khorchide betont. In einem Gastbeitrag in den "Salzburger Nachrichten" (Wochenend-Ausgabe) schrieb Khorchide von einer Vermischung des politischen Konflikts mit dem Verhältnis der beiden Religionen - des Islams und Judentums - miteinander. Der Theologe mahnte daher eine fundierte Auseinandersetzung mit tradierten Narrativen in der islamischen Welt über das Judentum ein.
Im Koran stoße man sowohl auf Lob als auch auf Kritik an Juden zur Zeit Mohammeds im siebten Jahrhundert, erläuterte der Theologe. Man dürfe diese Kritik auf keinen Fall als Kritik am Judentum oder an den Juden verallgemeinern, denn es seien jeweils nur bestimmte Gruppen oder Personenkreise gemeint gewesen. Es falle auf, dass der Koran gegenüber dem Christentum inhaltliche Kritik äußert, vorwiegend in Bezug auf die Vergötterung Jesu. Was hingegen das Judentum angeht, betreffe die koranische Kritik hauptsächlich politische und keine religiösen Konflikte zur Zeit Mohammeds, informierte Khorchide.
Man dürfe daraus aber nicht voreilig ableiten, dass deshalb die Religion bei der aktuellen Auseinandersetzung im Nahen Osten keine Rolle spiele. Khorchide verwies etwa auf die Al-Aksa-Moschee, die im Islam neben den Moscheen in Mekka und Medina als die dritte heilige Moschee gilt. Diese Moschee aufzugeben würde für viele Muslime einem Verrat am Islam selbst gleichkommen. Der Nahost-Konflikt sei folglich mit einer religiösen Dimension verbunden, die man nicht wegdenken könne. Entsprechend bleibe Ostjerusalem auch ein nicht verhandelbarer Bestandteil islamischer Kultstätten.
Vermischung von Politik und Religion
Diese starke religiöse Bedeutung von Jerusalem führe oft zu einer Vermischung des politischen Konflikts mit dem Verhältnis des Islams und des Judentums zueinander, so Khorchide: "In den sozialen Netzwerken und auf Pro-Palästina-Demonstrationen ist oft von den bösen Juden die Rede, und so wird aus einem politischen Konflikt ein religiöser. Dies ist Wasser auf die Mühlen des Antisemitismus, der durch die aktuellen Ereignisse viel Nährboden in und auch außerhalb Europas findet."
Im Narrativ vieler Muslime ist laut Khorchide Israel der Aggressor und die Hamas die Verteidigerin der heiligen Stätten des Islam. Daher werde der jüngste Angriff der Hamas nicht als Terroranschlag gesehen, sondern als legitimer Akt der Selbstverteidigung.
Junge Männer, die im Gazastreifen ohne Perspektiven leben und mit dem Kriegsnarrativ aufwachsen, müssten aufgefangen werden, so Khorchide: "Da reichen Verurteilungen und Verbote der Hamas nicht. Es braucht gezielte wirtschaftliche wie auch Bildungsmaßnahmen." Man dürfe nicht vergessen, "dass viele Flüchtlinge, die aus Syrien zu uns kamen, von ganz anderen Narrativen über das Judentum, die jüdische Bevölkerung und den Staat Israel geprägt sind als wir". Darüber müsse offen und sachlich geredet werden.
Vertrag von Medina
Initiativen und Haltungen, die zu einer friedlichen Koexistenz von Juden und Palästinensern aufrufen, berufen sich laut Khorchide oft darauf, dass Muhammad, als er im Jahre 622 von Mekka nach Medina ausgewandert ist, den berühmten Vertrag von Medina geschlossen habe, in dem er den Juden als Teil einer gemeinsamen Umma (Gemeinschaft) dieselben Rechte gab wie den Muslimen. Khorchide erinnert zudem daran, dass Juden, Christen und Muslime im osmanischen Reich in Wirtschaft, Politik und Kultur eng verbunden waren.
Derzeit würden diese positiven Narrative aber verdrängt und durch Kriegsnarrative ersetzt. Es bleibe nur zu hoffen, "dass sich die Weltgemeinschaft stärker im Sinne einer friedlichen Lösung dieses Konflikts einschaltet". Die bisherigen Bemühungen seien offenbar gescheitert. Daraus müsse man entsprechende Lehren ziehen "und einen Weg des dauerhaften Friedens im Nahen Osten einschlagen".
Verhältnis Christentum-Judentum
Bestürzt über den zunehmenden Antisemitismus in Europa hat sich in derselben Ausgabe der "Salzburger Nachrichten" die katholische Theologin Angelika Walser gezeigt. Sie verwies dabei auf eingeschlagene Fensterscheiben jüdischer Lebensmittelgeschäfte in Wien, Attacken gegen jüdische Kinder an österreichischen Schulen und einen versuchten Brandanschlags auf eine Berliner Synagoge.
Dabei könne der jüdisch-christlich/katholische Dialog der offiziellen katholischen Amtskirche mit dem Judentum der vergangenen Jahrzehnte eigentlich als Erfolgsgeschichte bezeichnet werden, meinte Walser. Ermöglicht wurde dies durch "Nostra aetate", die Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, die das Zweite Vatikanische Konzil am 26. Oktober 1965 verabschiedete. Hier habe man sich der Anfänge des christlichen Glaubens besonnen, "insbesondere bei den Patriarchen, bei Moses und bei den Propheten, aber auch der Tatsache, dass Jesus und seine Apostel allesamt gläubige Juden waren".
Die Katholische Kirche habe das Judentum ausdrücklich als ihre geistige Wurzel anerkannt und die Vorstellung einer Kollektivschuld von Juden am Kreuzestod Jesu Christi überwunden. Stellungnahmen der von Papst Paul VI. 1974 gegründeten "Päpstlichen Kommission für die religiösen Beziehungen mit den Juden" hätten der vormals verbreiteten katholischen Judenmission eine deutliche Absage erteilt, betonte Walser.
"Nostra aetate" habe 1993 auch den Weg zur Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen des Vatikans mit dem Staat Israel geebnet, erinnerte die Theologin: "Papst Franziskus setzt sich für eine Zwei-Staaten-Lösung für Israel ein und gerät dabei aktuell immer wieder zwischen die Fronten. Er hat sich ausdrücklich zum Existenzrecht Israels bekannt."
Jerusalem als heiliger Wallfahrtsort für Christgläubige aus aller Welt spiele dabei eine besondere Rolle. Die Juden und Christen gemeinsame Vision des alttestamentlichen Buches Jesaja vom Berg Zion, auf dem der "Herr der Heere" für alle Völker ein endzeitliches Friedensfest gibt, möge derzeit verdunkelt sein, für die diplomatischen Bemühungen der Kirche um Frieden im Heiligen Land sei sie aber nach wie vor eine Leitidee, so Walser.
Wie die Professorin für Moraltheologie und Spirituelle Theologie an der Theologischen Fakultät der Uni Salzburg weiter schrieb, sei rund 50 Jahre nach "Nostra aetate" eine bemerkenswerte jüdische Antwort erschienen: Die Erklärung der Europäischen Rabbinerkonferenz und des Rabbinischen Rats von Amerika "Zwischen Jerusalem und Rom" (2017). Diese Erklärung würdige die theologischen und politischen Friedensbemühungen der Päpste seit Johannes XXIII. und nenne Christgläubige trotz bleibender theologischer Differenzen "enge Verbündete, Freunde und Brüder" im Streben nach Frieden, sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit.
Das Dokument ruft etwa gemäßigte Muslime und Christen im Nahen Osten zum gemeinsamen Widerstand gegen islamistischen Terror auf. "Unter Berufung auf Jesus Christus und seinen Kreuzestod für alle Menschen werden sich Christgläubige weiterhin für Frieden im Nahen Osten einsetzen. Viele bezahlen diesen Einsatz mit ihrem Leben", so Walser.
Quelle: kathpress