Im Nahost-Konflikt spielt Religion fast überall eine Rolle
Die Staatsgründung Israels vor 75 Jahren war für die Zionistische Bewegung ein säkulares und politisches Projekt, das sich aber auf die biblische Vergangenheit des jüdischen Volkes berief: auf ein natürliches und historisches Recht im Land Israel; das sich auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden "im Sinne der Visionen der Propheten Israels" stützen und allen Bürgern - unabhängig von Religion und ethnischer Herkunft - soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen wollte. Zuletzt definierte das Nationalitätengesetz von 2018 Israel erneut als jüdischen Nationalstaat. Nichtjuden in ihm fühlen sich vielfach diskriminiert und als Bürger zweiter Klasse.
Von den knapp zehn Millionen Einwohnern Israels sind 74 Prozent Juden, 21 Prozent Araber - meist Muslime und knapp 185.000 Christen - sowie rund 140.000 Drusen. Von den Juden gehören 14 Prozent zu den ultraorthodoxen Haredim (in Jerusalem sind es 26, nach manchen Angaben sogar 35 Prozent); 10 Prozent gelten als "modern-orthodox", 30 Prozent als "traditionell" und die übrige knappe Hälfte als "säkular". Der Anteil der Haredim wächst infolge ihrer überdurchschnittlichen Geburtenrate stetig. Unter Netanjahus Rechtsregierung haben diese "Gesetzestreuen" deutlich an Einfluss gewonnen.
Dossier "Terror im Heiligen Land"
Lautstarken Einfluss haben auch die nationalreligiösen Hardliner, die Israel und das besetzte Westjordanland insgesamt als das ihnen von Gott geschenkte Land der Bibel betrachten und den Siedlungsausbau forcieren - auf Kosten der arabischen Bevölkerung. Die Gräuel der Terrorgruppe Hamas haben in Israel aber nun zu einer neuen Geschlossenheit geführt, politisch unter einer parteiübergreifenden Notstandsregierung. Die scharfen jüngsten Proteste etwa gegen die Justizreform der Rechtsregierung sind weitgehend abgeebbt.
Arabische Israelis gegen Hamas-Gewalt
Einer jüngsten wissenschaftlichen Umfrage zufolge äußerten 80 Prozent der befragten arabischen Israelis, die größtenteils Sunniten sind, sie seien gegen die brutale Gewalt der Hamas im Süden Israels. 85 Prozent gaben an, sie verurteilten die Entführung von Israelis in den Gazastreifen, wie hebräischsprachige Medien berichteten. Eine Mehrheit sprach sich zudem für ein Recht Israels zur Selbstverteidigung aus. Nur fünf Prozent der Befragten äußerten Unterstützung für den Angriff der Hamas.
Drei Viertel der befragten arabischen Israelis zeigte sich zudem bereit, sich ehrenamtlich für die Betroffenen des Angriffs zu engagieren. Von den befragten muslimischen Arabern stimmten mehr als die Hälfte der Aussage des arabisch-israelischen Parlamentsabgeordneten Mansur Abbas zu, dass die Art und Weise des Angriffs der Hamas auf Israel in Widerspruch zu den Werten des Islams stehe. Durchgeführt wurde die Umfrage vom Agam-Institut der Hebräischen Universität Jerusalem in Zusammenarbeit mit Forschern weiterer Universitäten.
Christen aus 20 Konfessionen
Auch für die Christen hat der Krieg natürlich Auswirkungen. Die Minderheit von knapp zwei Prozent der Bevölkerung ist in über 20 Konfessionen zersplittert. Die wichtigsten Gemeinschaften sind die Griechisch-Orthodoxen, deren Patriarch Theophilos in der Heiligen Stadt einen Ehrenrang hat, gefolgt von Katholiken und Armeniern; weiter Syrer, Kopten, Äthiopier und Eritreer, Lutheraner und Anglikaner. Die katholische Kirche tritt neben den vom Jerusalemer Patriarchen Kardinal Pierbattista Pizzaballa geleiteten "Lateinern", (den Gläubigen des römischen Ritus) in verschiedenen ostkirchlichen Gemeinschaften auf: Maroniten, Melkiten sowie katholische Armenier, Syrer und Chaldäer.
Der Konflikt hat erneut deutlich gemacht, wie sehr auch die Christen ihren gesellschaftlichen und kulturellen Milieus verbunden sind - auf unterschiedlichen Seiten. Drei Viertel der Christen sind arabische Israelis, deren Sympathien sich nur wenig von denen der muslimischen Mitbürger mit ihrem Volk unterscheiden. Auch wenn sie die brutale Gewalt des Hamas-Angriffs ablehnen, gibt es auch Kritik an den militärischen Gegenschlägen Israels und den Sanktionen gegen die Bevölkerung von Gaza. Die christlichen Gebote von Feindesliebe und Vergebung haben in dieser Krisensituation nicht oberste Priorität.
Anders ist die Lage der kleinen hebräischsprachigen Gemeinde katholischer Israelis, in der sich Konvertiten, nichtjüdische Ehepartner, aber auch manche ausländischen Ordensleute zusammenfinden. Und Ähnliches gilt für die große Zahl - schätzungsweise 100.000 - katholischer Migranten und Gastarbeiter insbesondere von den Philippinen, aus Indien, Sri Lanka oder Rumänien. Sie arbeiten meist als Pflegekräfte oder Haushaltshilfen im israelischen Ambiente; ihre Kinder besuchen jüdische Schulen. Entsprechend ist ihre Einbindung. Auch unter den landwirtschaftlichen Gastarbeitern an der israelischen Grenze zum Gazastreifen sind Christen. Auch sie waren und sind von den Angriffen der Hamas betroffen.
Aufrufe zum Gebet um Frieden
In dieser Situation versuchen die Patriarchen und Kirchenführer, der christlichen Minderheit eine Stimme zu geben. Eine erste gemeinsame Erklärung nach Kriegsausbruch war sehr allgemein und vage, blieb ohne Verurteilung der Hamas-Angreifer - und stieß auf heftige Kritik nicht nur der israelischen Regierung. In den folgenden Tagen, auch nachdem eine Kirche und das anglikanische Krankenhaus in Gaza durch eine Explosion beschädigt wurden, wurden die Stimmen der Christen differenzierter.
Die Kirchenführer versuchen zunehmend, das Proprium der christlichen Botschaft in den Vordergrund zu rücken und so in alle Lager hineinzuwirken. Und während gläubige Juden in erster Linie für einen Sieg beten, so rufen Christen ihre Gemeinden zum Gebet um Frieden auf, zu Versöhnung statt Hass und Rache. Vielleicht können Kirchenvertreter noch mehr als durch Worte durch konkrete Gesten überzeugen und christliches Profil zeigen. Welche Vorbildrolle sie dabei über alle Linien und Grenzen hinweg einnehmen können, zeigte der kürzlich zum Kardinal erhobene Patriarch Pierbattista Pizzaballa: Er hat sich als Austausch für die jüdischen Geiseln der Hamas angeboten.
Quelle: Kathpress