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Kathpress / Johannes Pernsteiner

Zulehner: Zu lange aufgeschobene Kirchenreform rächt sich nun

Wiener Pastoraltheologe in Kathpress-Interview: Krisenanhäufung würde gerade jetzt mehr Weltzugewandtheit der Kirche und weniger Selbstbeschäftigung erfordern - Auch Thema Missbrauch offensiv überwinden - Kirche braucht mehr Vielfalt unter Wahrung des gemeinsamen Glaubenskerns

21.10.2023

Die katholische Kirche ringt bei der laufenden Synode um Neuausrichtung und Zukunftsfähigkeit, dabei würde die aktuelle, von zahlreichen Krisen geprägt globale Lage gerade jetzt mehr Weltzugewandtheit und weniger Selbstbeschäftigung erfordern. Das hat der Wiener Pastoraltheologe Paul M. Zulehner in seinem jüngsten Buch herausgearbeitet. Der Autor fordert darin zu "Leidenschaft für die Welt" auf, so der Titel des bei Patmos erschienenen Bandes. Im Interview mit Kathpress kritisierte Zulehner die allzu langsame Umsetzung von Reformen im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils; die Kirche beschäftige sich zu sehr mit sich selbst. Er sei aber "überhaupt nicht gegen die Reformen, sondern sie hätten schon längst gemacht gehört, sodass wir die Kräfte frei haben."

 

Diese zu lange Aufschiebung falle "uns genau in dieser heutigen Weltsituation auf den Kopf", so Zulehner. Er erinnerte an die im Zuge des Synodalen Prozesses durchgeführte Versammlung der Europäischen Bischofskonferenzen im Frühjahr 2023 in Prag. Dort habe man sich über Genderideologie, den deutschen "Synodalen Weg" und andere kircheninternen Fragen gestritten, während zur gleichen Zeit das Europäische Parlament um Themen wie Krieg in der Ukraine, Klimakrise und Migration rang. "Und nichts davon auf der Synode in Prag", bemängelte der Theologe.

 

Zulehner nannte die Vorstellung einen Albtraum, dass die Kirche am Ende "durchreformiert" sei, während die Welt "in den Abgrund taumelt". Hier würden Prioritäten falsch gesetzt, das sei als Kirche "nicht unser Job", weil es primär um Gott und die Welt gehen müsste und nicht um die Befindlichkeit der Kirche, die letztlich nur "ein Instrument" sei. Papst Franziskus habe dies klar erkannt und zuletzt mit "Laudate Deum" ein Update seiner ökologische und soziale Themen verbindenden Enzyklika "Laudato si" vorgelegt. "Also die Kirche müsste lernen, mehr Franziskus zu werden". Von Konservativen werde der Papst als "zu politisch" geprügelt. "Aber was soll die Kirche anderes tun, als sich um die Polis, das Gemeinwesen der Menschheit, zu kümmern?", so die rhetorische Frage des Theologen.

 

"Wenn die Weltlage so zugespitzt ist, wie sie sich heute zeigt", müsste die katholische Kirche ihre Kräfte mit den anderen christlichen Kirchen, mit den anderen Religionen und mit den Menschen guten Willens bündeln und "Hoffnungsplattformen bilden", regte Zulehner an. In einer Zeit, da auch die UNO angesichts des Krieges als konstruktive Weltorganisation versagt, sei die Kirche als "einer der großen und vielleicht einzig noch funktionierenden Global Player" gefordert, die Krisen auslösenden Ängste zu mindern. Auch die junge Generation habe "unglaublich viele, geradezu apokalyptische Ängste", verwies der Theologe auf Bezeichnungen wie "Generation Z, also die letzte Generation", die Ausdruck einer als bedroht erlebten Zukunft seien. "In dieser Situation geht der Welt die Hoffnung aus", für die Religionen seit jeher Quelle seien.

 

Nicht am Thema Missbrauch "festnageln"

 

Zulehner plädierte auch vehement dafür, das für katastrophale Image-Werte der katholischen Kirche mitverantwortliche Thema Missbrauch offensiv "hinter sich zu bringen, statt sich dauernd selber darauf festzunageln." Sie müsse mit dem Fehler aufhören, dieses gesamtgesellschaftlich relevante Thema am Köcheln zu halten - etwa durch zahlreiche Einzel-Studien in jeder Diözese wie in Deutschland. Zulehner empfahl den Verantwortlichen, alle kirchlichen Archive zu öffnen und den Staat zu ersuchen, eine unabhängige Kommission für das ganze Land einzusetzen und das Thema "ein für alle Mal zum Wohl aller Kinder in dieser Gesellschaft" anzugehen.

 

Die Übernahme absolutisch-monarchistischer Sozialformen in die äußere Verfasstheit der Kirche hat nach Zulehners Überzeugung "das Evangelium mehr verschüttet als freigesetzt". Es gelte zu unterscheiden zwischen dem Ereignis der Bewegung Jesu, der mit seiner Reich-Gottes-Theologie "den Himmel auf die Erde bringen wollte", und deren notwendiger Institutionalisierung. Er halte es für verfehlt, die Institution Kirche als solche zu verteufeln - nach dem Muster "Jesus ja, Kirche nein". Es brauche beides, "weil die Institution ja nichts anderes ist als der Aufstand gegen das Vergessen".

 

Vielfalt statt Zentralismus

 

Wohl aber müsse ein jahrhundertelang vorherrschender "uniformistischer Zentralismus" in der römischen Kirche überwunden werden durch eine "inkulturierende Dezentralisierung", die auf regionale Erfordernisse unter Wahrung des unverzichtbar Gemeinsamen Rücksicht nimmt. "Und dann wird es eine Kirche mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten geben", prognostizierte Zulehner. Vielfalt gebe es ja bereits heute, sie sei "sozusagen der Schlüssel, um die katholische Kirche aus der Stagnation rauszubringen". Bei "heißen Eisen" wie Zölibat oder Weihe von Frauen kann sich Zulehner gut vorstellen, dass diese hinkünftig regional geregelt werden.

 

Wie die Einheit bei dieser wachsenden Ungleichzeitigkeit und Vielfalt bewahrt werden kann, ist laut Zulehner eine Herausforderung, vor der das Christentum seit Anfang steht. "Wir werden uns - wie die gesamte Ökumene - zurückziehen auf die harten Kernaussagen: eine Taufe, ein Glaube, ein Herr Jesus Christus, das wird genug sein", so der Theologe. "Wer dieses Bekenntnis hat, gehört dazu." Unterschiede dürfe es geben in den äußeren Formen des Lebens der Priester oder der Frage der Segnung der Homosexuellen. "Das zerstört die Einheit meines Erachtens nicht."

 

Damit verbunden sei eine Transformation des Papstamtes weg vom monarchistischen Herrscher in einer uniformierten Weltkirche hin zu einem "Ermutiger zu regionalen Entwicklungen, um die Kluft zwischen Kultur und Evangelium zu überbrücken". Auch kirchenrechtlich mehr Gewicht käme dann den Patriarchen, den kontinentalen Bischofskonferenzen oder in manchen Fragen sogar den Ortskirchen zu. Man wird sehen, wie weit diese Art der Synodalisierung bei den beiden Weltbischofssynoden 2023 und 2024 umgesetzt werden kann, so Zulehner. Er höre von Kirchenrechts-Fachleuten der laufenden Synode, dass genau daran gearbeitet werde. "Und ich glaube, wenn das gelingt, war die Synode ein sensationeller, gigantischer Erfolg." In diese Richtung denke auch der Papst aus Argentinien, so Zulehners Einschätzung.

 

Der Band "Leidenschaft für die Welt. Wider die Gottvergessenheit" von Paul M. Zulehner erschien im Patmos Verlag und umfasst 176 Seiten.

 

 

Quelle: kathpress

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