Tiwald: Bibelwissenschaft arbeitet eng mit Judaistik zusammen
Auf die breite Ausrichtung der modernen Bibelwissenschaft hat der Wiener Neutestamentler Markus Tiwald hingewiesen: "Man kann Bibelwissenschaft heute nur international und interdisziplinär betreiben", sagte der an der Uni Wien lehrende katholische Theologe im Interview des "Kurier" (26. Juli). Ein Hauptthema, das die Bibelwissenschafter heute vorrangig beschäftige, betreffe den jüdisch-christlichen Dialog und "die Auseinandersetzung mit unseren jüdischen Wurzeln". Jesus und Paulus seien Juden gewesen, aus dem Judentum zur Zeit Jesu hätten sich um 200 n. Chr. langsam das rabbinische Judentum und das beginnende Christentum entwickelt, so Tiwald. Das Verbindende sei viel stärker als das Trennende. "Wir arbeiten also mit der Judaistik zusammen."
Der Neutestamentler äußerte sich vor dem Hintergrund einer am Dienstag in Wien eröffneten Großtagung der Gesellschaft für Neutestamentliche Studien, an der sich rund 350 Bibelwissenschafter aus aller Welt bis zum Wochenende über die neuesten Forschungsergebnisse austauschen. Gastgeber sind die Katholisch- und die Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Wien. "Es geht uns hier um beides: um wertneutrale Religionsforschung, aber auch um gelebte Religion", teilte Organisator Tiwald mit. In der Forschung werde etwa die Sicht auf Jesus "durchgehend historisch-kritisch bearbeitet".
Ungeachtet dessen gebe es natürlich konfessionelle Unterschiede: "Wenn ich sage, Jesus ist die zweite göttliche Person, dann ist das natürlich eine christliche Perspektive: ein berechtigtes, aber nicht das einzige Deutungsmuster", erklärte der Theologe. Zur Zeit der Bibel sei vieles noch "in einer metaphorischen Fluidität" gewesen: "Sohn Gottes" etwa konnte sehr viel heißen im Judentum der damaligen Zeit, wies Tiwald hin.
Neben der geforderten wissenschaftlichen Methodik habe es die Bibelwissenschaft auch mit gelebter Religion zu tun: "Religionen tragen nach wie vor dazu bei, dass Menschen Sinnstiftung, Halt im Leben erfahren." Die Bibel sei "letztlich ein historisches Dokument - mit dem muss ich mich auseinandersetzen, das muss ich erklären", betonte Tiwald. Es brauche also Vermittlungsarbeit. "Wobei Übersetzungen, Übertragungen in eine 'heutige' Sprache insofern problematisch sind, als die 'heutige' Sprache sehr schnell wieder 'gestrig' wird", gab der Neutestamentler zu bedenken.
Theologen sind nicht weltfremd
Auf die Frage nach dem Stellenwert der Theologie an einer säkularen Universität bekannte sich Tiwald dazu, dass es eine konfessionsgebundene Theologie an unseren staatlichen Universitäten gibt. Das sei "auch eine Art Gütesiegel" für die dann ja auch beim Schulunterricht geforderte Qualität der Theologie. "Es ist auch ein Desiderat, dass beispielsweise islamische Religionslehrer bei uns im Land, nach unseren Qualitätsstandards ausgebildet werden."
Der Universitätsprofessor hielt fest, dass viele "fähige und engagierte, auch vernünftige und 'normale' Leute Theologie studieren". Das Klischee von Weltfremdheit treffe nicht zu. Wien werde gerade zu einem Zentrum internationaler Theologie: Ein Drittel der Dissertanten komme aus dem Globalen Süden, ein Drittel aus dem nichtösterreichischen EU-Ausland und ein Drittel aus Österreich, sagte Tiwald. "Unser Ziel wäre, dass Wien so etwas wie die theologische Feinkostabteilung werden könnte."
Quelle: kathpress