Tück über Lewitscharoff: Große Autorin mit Antenne für letzte Fragen
Als eine "unverwechselbare Stimme, eine sprachmächtige Schriftstellerin, eine streitbare Intellektuelle - mit wacher Antenne für metaphysische und religiöse Fragen" hat der Wiener Theologe Prof. Jan-Heiner Tück die am vergangenen Samstag, 13. Mai, im Alter von 69 Jahren verstorbene Autorin Sibylle Lewitscharoff gewürdigt. "Seichte Pastoralrhetorik war ihr ein Gräuel, daher hat sie die Theologie auch dazu aufgefordert, sich den vitalen Sinngehalten des Glaubens zuzuwenden, statt immer um dieselben Reformthemen zu kreisen, um die in der Kirche vielleicht gerungen werden muss, die aber den Gottesdurst metaphysisch Obdachloser und suchender Intellektueller ohne Antwort zurücklässt", so Tück im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Kathpress (Mittwoch).
Lewitscharoff hatte 2016 die von Tück initiierte Wiener Poetikdozentur Literatur und Religion als erste Referentin mit einem Vortrag über Dante und das Verhältnis von Literatur und Religion eröffnet. "Es war ein fulminanter Vortrag", erinnerte sich Tück, "in dem die Autorin sich beharrlich geweigert habe - wie auch sonst in ihrer Literatur -, den Wirklichkeitsbegriff empiristisch engzuführen." Insbesondere verwies Tück in dem Kontext auf die Romane "Pong" (1998), "Das Pfingstwunder" (2016) und "Blumenberg" (2011), in denen sie den Begriff des literarischen Realismus fiktiv erweitert und "beherzt in andere Welten ausgreift".
Damals beschloss sie ihre Wiener Poetikvorlesung mit einer Passage aus ihrem damals noch nicht veröffentlichten Roman "Das Pfingstwunder", in dem es um einen Dante-Kongress geht, der bei den Maltesern auf dem aventinischen Hügel in Rom stattfindet. Danteforscher aus verschiedenen Ländern und Erdteilen kommen da zusammen und gehen Canto für Canto die "Commedia" durch, bis sich - just in dem Moment, in welchem die Glocken des Peterdoms das Pfingstfest einläuten - ein neues pfingstliches Sprachwunder ereignet. "Ein die vordergründige Realität auf irritierende Weise durchbrechendes Ereignis, das Lewitscharoff mit barocker Fabulierungskunst schilderte", erinnerte sich Tück.
"Unvergessen" bleibe aber auch ihr "wacher Gerechtigkeitssinn und die schneidende Absage an weichgespülte Eschatologien", so Tück weiter. Entsprechend habe sie auch die Vorstellung einer Hölle für weiterhin relevant und aktuell gehalten: "Nichts wird mit dem großen Schwamm der Barmherzigkeit einfach weggewischt, alles kommt auf den Tisch und muss entsprechend geahndet werden. Von daher auch ihre Reserve gegen eine weichgespült Theologie, die allen schon immer alles verziehen hat."
Gewiss habe sie sich auch "hier und da vergaloppiert", räumte Tück unter Verweis etwa auf Lewitscharoffs "Dresdner Rede" von 2014 ein. In der Rede, die um Fragen von Geburt, Tod und Glück kreiste, bezeichnete sie Retortenkinder als "Halbwesen" und verglich die Reproduktionsmedizin mit Menschenzüchtungs-Praktiken der Nationalsozialisten. Das brachte Lewitscharoff nicht nur einen Shitstorm ein, sondern führte zu einem "herben Absturz" im öffentlichen Renommee des vormaligen Lieblingskindes der Literaturkritik. Wenig später ruderte die Autorin zurück: "Ich würde niemals ein Kind, das auf diese Weise zur Welt kam, als fragwürdigen Menschen bezeichnen." Sie stehe jedoch der Reproduktionsmedizin weiter kritisch gegenüber.
Sibylle Lewitscharoff wurde am 16. April 1954 als Tochter eines bulgarischen Vaters und einer deutschen Mutter in Stuttgart geboren. Nach dem Studium arbeitete sie zunächst als Buchhalterin in einer Werbeagentur. Sie veröffentlichte Radiofeatures, Hörspiele und Essays. Für "Pong" erhielt sie 1998 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Der Roman "Apostoloff" wurde 2009 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. 2013 wurde sie mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt, renommierteste Literaturauszeichnung im deutschen Sprachraum.
Quelle: kathpress