Caritas: Wachsende Armut erfordert politisches Gegensteuern
Angesichts der zuletzt stark steigenden Armut in Österreich besteht "akuter politischer Handlungsbedarf". Das hat Klaus Schwertner, Caritasdirektor der Erzdiözese Wien, bei der Präsentation einer neuen Studie betont, die profunde Einblicke in die Lebensrealität von armutsbetroffenen Menschen gibt: Das Sozialforschungsinstitut SORA interviewte dafür 400 Klientinnen und Klienten der Caritas-Sozialberatung in Wien und Niederösterreich, die sonst "Unterm Radar" - so der Titel der gemeinsamen Studie - bleiben. "Die Ergebnisse sind erschreckend" und liefere den Beweis, dass entschiedenes Gegensteuern der Politik dringend geboten sei, wie Schwertner bei einem Pressegespräch am Donnerstag in der "LeO Lebensmittelausgabestelle Penzing" in Wien sagte.
Laut jüngsten Daten der Statistik Austria gelten in Österreich aktuell 201.000 Menschen als besonders stark von Armut betroffen - um 40.000 Personen mehr als noch im Jahr zuvor. Zuerst durch die Pandemie, dann durch Rekordinflation und Teuerungen habe sich der Druck auf Betroffene massiv erhöht, wies Schwertner hin. Die Caritas wollte dem Institut SORA Zugang zu diesen Menschen verschaffen, die in herkömmlichen Befragungen nicht repräsentativ vertreten sind. Dessen Leiter Günther Ogris sprach bei der Präsentation von bisher nicht zugänglichen Erkenntnissen durch die zwischen Dezember und März geführten Interviews: "Dort, wo bisher ein weißer Fleck auf der empirischen Landkarte vorherrschte, gibt es nun sehr detaillierte Ergebnisse zur Lebenssituation von armutsbetroffenen Menschen."
Unter den Befragten fanden sich Mindestpensionistinnen ebenso wie junge Menschen, Mehrkindfamilien und Alleinerziehende, Arbeitslose und "Working Poor", also Menschen, die trotz eines Arbeitsplatzes von Armut betroffen sind. Die wichtigsten Ergebnisse: Acht von zehn Caritas-Klienten leiden unter erheblicher materiellem und sozialem Druck. Schwertner: "Knapp 70 Prozent der Hilfesuchenden hätte nie gedacht, je auf unsere Unterstützung angewiesen zu sein. Und mehr als die Hälfte der Befragten ist überzeugt, dass sie langfristig Hilfe braucht." 94 Prozent der Befragten könnten sich keine regelmäßigen Freizeitaktivitäten leisten, mehr als 85 Prozent mussten sich angesichts der Inflation verschulden oder sind auf finanzielle Hilfe angewiesen.
76 Prozent müssen der Studie zufolge auf vollwertige Mahlzeiten verzichten. 73 Prozent können ihre Wohnung nicht warmhalten, 70 Prozent abgenutzte Kleidung nicht ersetzen. Ogris: "Acht von zehn Personen geben an, dass sie nicht wüssten, wie sie ohne die Unterstützung von Hilfsorganisationen über die Runden kommen sollten. Und auffällig ist auch: Der Anteil der Alleinerziehenden unter den Befragten ist mit 25 Prozent besonders hoch."
Mehrheit für Langfrist- statt Einmalhilfen
Überrascht zeigten sich Caritas und SORA von der Tatsache, dass die Wünsche, die Betroffene an die Politik richten, mit jenen der breiten Bevölkerung Hand in Hand gehen. Ogris verwies auf eine repräsentative Befragung vom Oktober, die aufzeige, dass die Wünsche und Forderungen an die Politik da wie dort gleich stark ausgeprägt seien. "Es herrscht eine große Einigkeit darüber, dass Hilfe zuallererst jenen zugutekommen muss, die armutsbetroffen sind - dem stimmen 94 bzw. 89 Prozent der Befragten zu." Einig seien sich Armutsbetroffene und Gesamtbevölkerung auch darin, dass strukturelle und langfristige Hilfen besser wären als Einmalzahlungen (94 bzw. 83 Prozent). 91 bzw. 81 Prozent der Befragten sprachen sich laut SORA für eine Erhöhung der Mindestsicherung aus.
"Sozialhilfe Neu sieht in der Krise alt aus"
Schwertner fühlte sich dadurch in den Caritas-Vorbehalten gegen "das Prinzip Gießkanne" bestätigt und beklagte die "Tatsache, dass diese Hilfen nicht langfristig und oft sehr spät erfolgen". Die Caritas erneuere deshalb ihre Forderung nach einer Reform der Sozialhilfe Neu, die "in der Krise alt aussieht". Auch wenn es zu begrüßen sei, dass Bund und Länder in den vergangenen Jahren zahlreiche Hilfen auf den Weg gebracht haben: Die Abschaffung der Mindestsicherung durch die ÖVP-FPÖ-Regierung unter Sebastian Kurz habe sich in der Krise "bitter gerächt", beklagte Schwertner. Er forderte wieder Mindeststandards ein, die Menschen ein Leben ohne tägliche Existenzängste ermöglichen. Es brauche bedarfsorientierte Kinderrichtsätze und ein Verbot der Anrechnung anderer Sozialleistungen, wie etwa der Familienbeihilfe.
Die Caritas drängte auch auf Inflationsanpassungen von Leistungen wie Arbeitslosengeld und Notstandshilfe. Ausständige inklusive Familienzuschläge müssten schnellstmöglich nachgeholt und die gescheiterte Arbeitsmarktreform wieder auf den Weg gebracht werden. Außerdem seien nachhaltige Lösungen in den Bereichen Wohnen und Energie erforderlich.
Schwertner schloss mit der Bitte, Armutsbetroffene aus den Sozialberatungsstellen der Caritas mit einem Lebensmittelpaket zu unterstützen (Link: https://wirhelfen.shop/schenk-ein-lebensmittelpaket-fur-armutsbetroffene-menschen)
Quelle: kathpress