Milieu-Studie: Kirche verliert "nostalgisch-bürgerliche Mitte"
Die Kirche in Österreich hat eine Gesellschaftsgruppe, die ihr eigentlich nahe steht, nämlich die "nostalgisch-bürgerliche Mitte", verloren. Darauf weist die "Sinus-Milieu-Studie 2022", die die Wertvorstellungen der Österreicherinnen und Österreicher analysiert, hin. Die Studie, die Menschen mit ähnlichen Werten und vergleichbarer sozialer Lage in Gruppen - sogenannte Milieus - zusammenfasst, gebe auch für die Seelsorge durchaus herausfordernde Hinweise, wie Martin Mayr, stellvertretender Geschäftsführer des mit der Studie befassten Integral-Marktforschungsinstitut, im Interview mit der Linzer "KirchenZeitung" (aktuelle Ausgabe) darlegte.
Im Wesentlichen verfügten noch zwei der zehn Gruppen, die die Studie einteilt, nämlich das "konservativ-etablierte Milieu" und das "traditionelle Milieu" über eine engere Kirchenbindung. Beide machten ungefähr 21 Prozent der österreichischen Bevölkerung über 14 Jahre aus. Früher habe auch die bürgerliche Mitte, mit rund 14 Prozent dazugehört. "Das ist jetzt nicht mehr so", stellte Mayr klar.
Diese "nostalgisch-bürgerliche Mitte" sehe wahrscheinlich auch die Kirche als Institution ähnlich wie den Staat, der versagt habe und sie nicht verstehe, sagte der Marktforschungsexperte. Diese Gruppe habe das Gefühl, "dass die Kirche sie nicht ernst nimmt", viele hätten sich deshalb von ihr verabschiedet. Einen "ganz starken Auslöser" für dieses Verhalten ortet Mayr in der Corona-Pandemie. Die Kirche müsse der "nostalgisch-bürgerlichen Mitte" viel mehr das Gefühl geben, "dass sie ihre Anliegen aufgreift und dass ihre Meinungen und Werte etwas sind, das zählt", so Mayr.
"Traditionelles Milieu" wird verschwinden
Insgesamt sei das "traditionelle Milieu" von 14 Prozent im Jahr 2011 auf aktuell zehn Prozent gesunken, erläuterte der Marktforscher. Diese Menschen lebten "im Wesentlichen die Wertewelt der 1950er-Jahre, die von Pflicht und Sparsamkeit geprägt ist". Ein Großteil dieses Milieus sei über 60 Jahre alt und es falle auf, dass in dieses Milieu kaum mehr junge Leute nachwachsen würden.
"Es ist heute absolut nicht mehr attraktiv. Mittelfristig wird diese Wertewelt aus der Gesellschaft verschwinden", so der Experte. Dass sich in dieser Gruppe ein erheblicher Teil der Kirchgänger befänden, sei eine Herausforderung für die Kirche: "Dieser Teil der Kirchgängerinnen und Kirchgänger wird unweigerlich weniger und weniger. Das ist die Demografie."
Kirchen müssten heute viel mehr versuchen, die einzelnen Milieus auf unterschiedliche Weise anzusprechen, zeigte sich Mayr überzeugt. Für die "adaptiv-pragmatische Mitte" wäre etwa die Familienpastoral ein Angebot. Die beiden Zukunftsmilieus der "progressiven Realisten" und "kosmopolitischen Individualisten" seien eher über punktuelle Projekte, zum Beispiel im Sozialbereich, ansprechbar. Sie stehen aber der Institution Kirche und deren Moralkodex speziell bei Genderfragen oder Geschlechter-Identität "sehr ablehnend" gegenüber, betonte der Marktforscher.
Pfarren brauchen "milieusensible Pastoral"
Pfarren könnten dann von der "Sinus-Milieu-Studie" profitieren, wenn sie sich Verständnis über die Vielfalt der Menschen, die in einer Pfarre leben, verschafften und sich dessen bewusst würden, "wie unterschiedlich sie ticken", so Mayr: "Ich würde jeder Pfarre eine milieusensible Pastoral empfehlen".
Als breite Trends, die sich im Vergleich mit der letzten Erhebung 2011 noch verfestigt haben, macht Mayr die Themen Nachhaltigkeit, Klimaschutz und Ökologie aus. Diese hätten innerhalb der letzten fünf Jahren auch in der jungen Zielgruppe noch einmal deutlich an Fahrt aufgenommen. "Das ist eine Trendwende, auf deren Basis sogar eine neue Lebenswelt entstanden ist: die 'Progressiven Realisten'".
Eine zweite große Veränderung betreffe die Mitte der Gesellschaft. Das Milieu, das 2011 noch als "systemstabilisierend" gewirkt habe, gebe es in dieser Form heute nicht mehr, erläuterte der Integral-Geschäftsführer: "Diese 'Bürgerliche Mitte' hat die Entscheidungen der Regierungen mitgetragen und hat die Gesellschaft damit sehr stabilisiert." Aktuell fühlten sie sich aber von den Entscheidungsträgern nicht ernst genommen. Teile dieser Gruppe seien "so kritisch geworden, dass sie alles ablehnen, was von oben kommt". Diese Menschen verbinde der Wunsch nach gesicherten Verhältnissen, der mit Abstiegsangst und Überforderung "zusammenprallt", so Experte Mayr.
Quelle: kathpress