Theologen: Ratzingers Theologie entzieht sich der Schablonenbildung
Rund einen Monat nach dem Tod Benedikts XVI. und den zahlreichen Nachrufen und Einschätzungen haben sich nun drei Theologinnen und Theologen ausführlicher mit der Frage des theologischen Erbes Joseph Ratzingers auseinandergesetzt. Tenor: In seiner theologischen Arbeit entzieht sich Ratzinger "jeder Schablonenbildung" - er war zugleich zeitdiagnostisch wach und offen für säkulare Impulse, als auch vom Grundgestus seines Denkens her bewahrend. Dass ihm dabei die kirchliche Bestandswahrung wichtiger wahr als eine "leidsensible Theologie", müsse als Kritik angebracht werden. Das haben der Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück, die Grazer Fundamentaltheologin Martina Bär und der emeritierte Innsbrucker Dogmatiker Roman Siebenrock in einer neuen Folge des Podcasts "Diesseits von Eden" betont.
Tück beschrieb Ratzingers Theologie als eine von "Innovationsgehabe" und "origineller Denkform" entfernte, zugleich grundsolide, biblisch und patristisch grundierte Theologie, die "zeitdiagnostisch im Modus des Widerspruchs agiert" hat - dabei sich aber sprachlich der "Kunst des theologischen Essays" zu bedienen vermochte. "Umständliche Gelehrtendiktion war ihm ebenso fremd wie ein modisches Vokabular." Sichtbar werde dies etwa - darin stimmten auch Bär und Siebenrock überein - in den bis heute lohnenden Passagen von Joseph Ratzingers Werk "Einführung in das Christentum" oder in seiner "Eschatologie" - seinem akademisch ausgearbeitetsten Werk, so Tück.
"In Opposition zur Schultheologie"
Siebenrock erinnerte indes daran, dass Ratzingers Theologie anfangs "in Opposition zur Schultheologie" gestanden habe - ein Ansatz, "mit dem er in Innsbruck kein Semester überlebt hätte" - etwa in seiner stark personalen Fokussierung und ihrer Eigenart, gänzlich ohne Reflexion auf Thomas von Aquin auszukommen. Dass Ratzinger später in seinen hochrangigen kirchlichen Funktionen nicht mehr nur ein "Theologe am Schreibtisch" war, sondern "Weltkirche im Umbruch begleiten" musste, mache ihn zwar angreifbar, es nötige ihm aber auch großen Respekt ab, räumte Siebenrock ein: "Ob da ein anderer besser abgeschnitten hätte, darüber kann mal wohl streiten."
Sowohl Tück als auch Bär verwiesen zudem auf den theologischen Disput, den Joseph Ratzinger als Theologe und Bischof mit seinem Zeitgenossen, dem Theologen Johann Baptist Metz, ausgefochten hat. Der von Metz entwickelten "Neuen Politischen Theologie", die auch die "Theologie der Befreiung" inspiriert hat, stand Ratzinger zeitlebens skeptisch bis ablehnend gegenüber, da er darin Momente einer marxistischen Versuchung bzw. säkularen Eschatologie vermutete. Bär wiederum wendete gegen Ratzinger ein, dass dieser - anders als Metz - kein Sensorium für eine "leidsensible" Theologie entwickelt habe und entsprechend kein Sensorium für die Frage, "inwiefern Theologie selbst dazu beiträgt, dass Menschen marginalisiert werden, dass sie Opfer von politischen Verhältnissen werden".
Außerdem orte sie bei Ratzinger eine "Angst vor der Moderne" und vor dem Gedanken tatsächlicher menschlicher Autonomie, so Bär weiter. "In seiner römischen Phase merkt man ganz deutlich, dass er Angst vor einem Relativismus entwickelt, den die moderne oder genauer gesagt: die postmoderne Gesellschaft mit sich bringen würde". Dagegen habe Ratzinger eben ein "starkes Kirchenbild" im Sinne einer "communio hierarchica" vertreten, was Menschen prinzipiell nicht zutraut, von ihrer Freiheit positiv Gebrauch zu machen.
Tück und Siebenrock stellten indes in den Raum, dass Ratzingers Theologie sehr wohl Momente der von Bär vermissten Leidsensibilität aufweise. So verwies Tück etwa auf die von Ratzinger als Benedikt XVI. verfasste Enzyklika "Spe salvi" (2007), in der Ratzinger dezidiert den Dialog mit Denkern der "Frankfurter Schule" führe und Versöhnung und Heil so theologisch entfaltet, dass diese nicht blind seien für das geschichtlich erlittene Leiden der Opfer.
Theologische Impulse für die Zukunft
Gefragt nach Aspekten aus Ratzingers Theologie, die noch heute tragen bzw. zukunftsfähig seien, betonte Tück die breite "dialogische Offenheit" Ratzingers, wie sie sich u.a. in der Einladung an Atheisten und Agnostiker zum Weltfriedenstreffen 2011 nach Assisi gezeigt habe. Tück: "Wir leben in Zeiten einer extremen Polarisierung nicht nur innerhalb der Kirche, auch in der Gesellschaft. Diese reflexive Haltung, die Ratzinger vielleicht selbst nicht immer eingelöst hat, aber doch versucht hat (...) - also diese Lernbereitschaft, die im Dialogischen liegt, die kann man als Haltung wirklich von ihm lernen."
Ähnlich Roman Siebenrock und Martina Bär, die beide auf die Dialogfähigkeit als eine Stärke Ratzingers Theologie hinwiesen: "Ich denke auch, dass es unser Anliegen sein muss, gesprächsfähig zu sein, und zwar nach innen und nach außen, ohne jeden Vorbehalt. Pluralität zuzulassen und gesprächsfähig zu bleiben bis hinein in die Ratlosigkeit. Das scheint mir wichtig zu sein", so Siebenrock. Und Bär ergänzte: "Das heißt: keine Angst mehr vor Säkularisierungsprozessen zu haben; sich einzugestehen, dass wir als Theologen selber schon ganz stark an diesen Säkularisierungsprozessen partizipieren, also Teil einer postmodernen Gesellschaft sind, dass man aufhört, in Opposition zu denken - wir als die frommen Theologen und draußen die gottlosen anderen Menschen -, sondern dass wir eben genau diese Opposition aufbrechen und uns selber als Teil der anderen sehen und andersherum genauso."
Die Podcast-Folge kann unter https://diesseits.theopodcast.at/zum-theologischen-erbe-von-joseph-ratzinger nachgehört werden. Der Podcast der theologischen Fakultäten in Österreich und Südtirol, "Diesseits von Eden. Gespräche über Gott und die Welt", ist unter https://diesseits.theopodcast.at abrufbar sowie über alle gängigen Podcast-Kanäle kostenlos abonnierbar (https://diesseits-von-eden.simplecast.com/; https://open.spotify.com/show/2UmXKDYRtqi3TMY6kgrAZ7?; https://podcasts.apple.com/at/podcast/diesseits-von-eden-gespr%C3%A4che-%C3%BCber-gott-die-welt/id1552193745).
Quelle: kathpress