ORF beleuchtete Benedikt XVI. und Umgang mit Zeichen der Zeit
"Der Denker auf dem Thron": Unter diesem Titel widmete das ORF-Fernsehen dem emeritierten Papst Benedikt XVI. eine "Kreuz & Quer"-Spezialausgabe am Neujahrstag. Der Umgang des zu Silvester Verstorbenen mit den "Zeichen der Zeit" - einem Begriff des von Joseph Ratzinger mitgeprägten Zweiten Vatikanischen Konzils - stand dabei im Mittelpunkt unterschiedlicher Einschätzungen. Kardinal Christoph Schönborn bezeichnete es in der TV-Dokumentation als eines der "fundamentalsten Missverständnisse" den Ex-Papst betreffend, ihn als "ängstlich" zu interpretieren. Benedikt sei aber zweifellos ein Zeitkritiker gewesen, der "echte Abbrüche und vielleicht sogar Zusammenbrüche" klar beim Namen genannt habe.
Dass sich Benedikt "mit den Zeichen der Zeit sehr schwer getan" habe, erklärte demgegenüber die Wiener Theologin Regina Polak. In den Augen des deutschen Papstes habe sich die Geschichte der westlichen Kirche als eine "Verfallsgeschichte" dargestellt. Dem habe Ratzinger versucht, mit einer "zeitlosen Theologie" zu begegnen bzw. Fehlentwicklungen zu korrigieren - was laut Polak "zu einer konservativen Wende geführt" habe.
Kardinal Schönborn, ein Schüler und Mitarbeiter Ratzingers beim Projekt Weltkatechismus, unterstrich zu dessen bischöflichen Wahlspruch "Mitarbeiter der Wahrheit": Wahrheit sei nach Überzeugung Benedikts "nicht etwas, das man besitzt, sondern immer auch etwas zu Suchendes, etwas, das vor uns liegt und auf das wir uns ausrichten". Aber dass es die Wahrheit gibt, das müsse vorausgesetzt werden, wie Schönborn gegen die Weltsicht des Relativismus darlegte.
In "Kreuz & Quer" kam auch die Missbrauchskrise der Kirche zur Sprache, die Benedikts Pontifikat und anlässlich des Münchner Missbrauchsgutachtens von 2020 auch dessen Emeritus-Phase überschattete: "Problematisch" am Agieren Benedikts daran war nach den Worten Regina Polaks seine Abwehr der Frage, inwiefern sich die Strukturen der Kirche begünstigend für Missbrauch durch ihre Vertreter auswirken. Bei Benedikt werde das Thema "individualisiert" und als moralischer Verfall des an sich heiligen Priesteramts interpretiert. "Das greift zu kurz", so die am Institut für Praktische Theologie der Uni Wien lehrende Expertin.
Freilich - für jemanden, der sein Leben dieser Kirche widmete, müsse das Ausmaß des Missbrauchsskandals, der viel Bösartigkeit und Gewalt gegenüber Schutzbefohlenen zutage gebracht habe, ein enormer Schock gewesen sein und vielleicht mehr, als jemand in hohem Alter integrieren könne, wie Polak anmerkte.
Kritisch bewertete sie die Tatsache, dass Joseph Ratzinger auch nach seinem Amtsverzicht in weißer Papstkleidung aufgetreten sei. Dies habe theologisch nicht Versierten signalisiert, dass es mehr als nur einen Papst gibt. Auch sei der Rückzug Ratzingers insofern "nicht wirklich ein Ende" gewesen, als auch nach 2013 regelmäßig eine "päpstliche Stimme aus dem Off" zu hören gewesen sei. "Das schadet dem Amt tatsächlich sehr." Positiv am damaligen Amtsverzicht war für Polak: Bei aller Heiligkeit, die auch in der Anrede "Heiliger Vater" zum Ausdruck komme, sei durch den Rücktritt Benedikts XVI. daran erinnert worden, dass "nur einer heilig ist - und das ist unser Vater im Himmel".
Gerl-Falkovitz: Demut Benedikts wird übersehen
Das "Demütige" an der Persönlichkeit von Benedikt XVI. ist eine für einen (emeritierten) Papst besonders erstaunliche Haltung, die laut Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz Charakterzüge wie das Leise, zutiefst Freundliche, Gesammelte in seiner letzten Lebensphase noch überragt. Wie die an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Benedikt XVI. in Heiligenkreuz bei Wien lehrende deutsche Religionsphilosophin in der Neujahrsausgabe der "Kleinen Zeitung" kritisierte, werde dies in Nachrufen auf den verstorbenen Joseph Ratzinger "häufig übersehen, vielleicht sogar unbesonnen oder absichtlich umgedreht". In den Medien fänden sich "dümmste Zuschreibungen" wie "Panzerkardinal" oder "Rottweiler Gottes".
Solche Verkennungen sind - so Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz weiter - aber auch ein "Anzeichen für eine Witterung, die an diesem Mann und seinem Amt etwas Unbesiegbares ahnt und daher zutreten will, mit dem Instinkt für das Verzerren und Missverstehenwollen, das dennoch und deswegen wehtut". Die Religionsphilosophin verwies demgegenüber auf die Früchte, die dem "unaufhörlichen geistigen Kampf" des Verstorbenen entstammen: "Wann zuletzt ist so unerbittlich und doch werbend der Anspruch der Vernunft von einem Papst verteidigt worden?" Benedikt habe die Vernunfthaltigkeit des Glaubens ebenso hochgehalten wie die seit der griechischen Antike bestehende "Ökumene der Vernunft, die Philosophien, Theologien und Wissenschaften zusammenschließen kann". Das päpstliche "Hohelied des Logos" habe ein Gespräch angeregt, das aus der postmodernen Sinnleere herausführe und die Gegenwart "rettet aus ihrem selbstwidersprüchlichen Schulterzucken über Wahrheit", wie Gerl-Falkovitz würdigte.
Quelle: kathpress