Juncker über Asyl in der EU: "Absoluter Mangel an Nächstenliebe"
Scharfe Kritik am Umgang mit Geflüchteten in der EU hat deren früherer Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker geübt. Statt diese - wie 2015 unter seiner Führung vorgeschlagen - über ganz Europa zu verteilen, gebe es in einigen Ländern, vor allem in Ost- und Mitteleuropa, einen unterschiedlichen Umgang mit Flüchtlingen. "Fliehen Orthodoxe, ergo Christen, werden diese aufgenommen", sagte Juncker im Interview der Wochenzeitung "Die Furche" (22. Dezember). "Fliehen Menschen mit islamischem Glauben, werden sie nicht aufgenommen." Das ist laut dem langjährigen EU-Spitzenpolitiker "ein absoluter Mangel an elementarer Nächstenliebe". Konkret nannte er Ungarn und Polen, wo es "de facto keine syrischen Flüchtlinge" gebe.
Juncker wörtlich: "Das ist ein Skandal, ein Ärger, ein Drama." Man müsse Betroffene aufnehmen und dann "nach durchgearbeiteter Asylprozedur auf Gesamteuropa verteilen oder eben zurückschicken". Der aus Luxemburg stammende Ex-Politiker wandte sich gegen ein politisches Agieren, "als ob Geflüchtete eine Bedrohung für Europa wären". Auch Österreich sei mit der jüngsten Schengen-Blockade von Rumänien und Bulgarien in dieser Spur. Diese Haltung habe viel mit österreichischer Innenpolitik zu tun. "Und das macht mich traurig", merkte der Christdemokrat an. Zur ÖVP hielt Juncker fest: "Es reicht nicht, sich das 'Christlich' auf die Fahnen zu schreiben, es aber nicht im Herzen zu tragen."
Er habe sich "sehr um Sebastian Kurz bemüht". Das Verhältnis zum nach dem Chat-Skandal zurückgetretenen Bundeskanzler sei "schwierig" gewesen, "da ich immer sehr viel Zeit darauf verwenden musste, ihm das übergeordnete Europäische zu erklären". Kurz sei im Prinzip "erst einmal dagegen" gewesen - "und zwar gegen alles, was aus Europa kam". Die Chats zeigen laut Juncker "eine abgrundtiefe Verirrung des politischen Denkens in Teilen der österreichischen politischen Gesellschaft". Es gebe in der österreichischen Politik "Menschen, die machtverliebt, machtversessen sind und denen jedes Mittel recht ist, um den Machterhalt zu pflegen, so der Eindruck des früheren EU-Kommissionspräsidenten. "Kurz war im persönlichen Gespräch nicht so, wie er sich letztlich enthäutete."
Letzten Endes seien alle in Europa "einfach nicht solidarisch genug". Es werde verabsäumt, die Lebensverhältnisse in Afrika oder Asien zu verbessern, damit die Menschen die Fahrt über das Mittelmeer nicht zu wagen bräuchten. Und, wie Juncker hinzufügte: "Wir sind auch vergesslich." Nach dem Zweiten Weltkrieg habe es in Europa massive Flüchtlingsströme gegeben. Doch aufgrund der noch sehr präsenten Kriegserfahrung sei man "zu menschlichen Reflexen fähig" gewesen. Heute herrsche Undankbarkeit vor, befand Juncker. "Auch tut man sich schwer damit, dass andere ein ähnliches Maß an Wohlstand, an Frieden und Friedfertigkeit erlangen möchten."
Russlands Überfall war 2022 "Schlüsselmoment"
Der Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar war für Juncker "der Schlüsselmoment des Jahres 2022" und bedeutete das Ende der europäischen Friedensbekundung. Zugleich äußerte er die Überzeugung, dass die diplomatischen Kanäle zum Kreml nicht abgebrochen werden dürfen: "Ich glaube, man muss mit den Russen reden. Es kann auf Dauer keine Sicherheitsarchitektur zugeschnittenen Maßes in Europa geben, wenn wir Russland außen vor lassen."
Zu Putin habe er früher ein nahezu freundschaftliches Verhältnis gehabt, berichtete Juncker. 2005 während des luxemburgischen Ratsvorsitzes sei er vom russischen Präsidenten in dessen Privaträume im Kreml eingeladen worden. Putin habe sich mit Juncker in der von ihm neben seinem Fitnessraum eingerichteten Kapelle niedergekniet und ein Pope habe die beiden gesegnet, damit deren Gespräch gut verlaufen möge - "ein fast intimer Augenblick", wie Juncker sagte. Später habe sich die antiwestliche Haltung Putins verstärkt.
Putin durch Syrienkrieg ermutigt
Die "eigentliche Erklärung" für die Attacke auf die Ukraine hat nach den Worten Junckers mit der Inkonsequenz des Westens in Syrien zu tun: "Wir hatten gesagt, wenn Assad Chemiewaffen einsetzt, dann ist die rote Linie überschritten und dann agieren wir. Wir haben aber nicht agiert." Damals habe sich Putin wohl gesagt: "Die machen dicke Backen, aber pfeifen nicht."
Wieder Frieden zu schaffen, sei mit der Person Putin nicht möglich, meinte Juncker. "Frieden in der Ukraine kann nur erreicht werden, wenn die Amerikaner und die Europäer im Schulterschluss gegenüber Russland auftreten." Dazu seien auch diplomatische Bemühungen erforderlich. Auf die Frage, ob er sich zur Verfügung stellen würde, um Kontakt zu Putin zu suchen, gab Juncker eine ausweichende Antwort: Er habe kein Mandat mehr in Europa. "Und solange ich nicht gebeten werde, mich da einzumischen, werde ich das nicht tun."
Quelle: kathpress