Asyl-Expertin: Grundrechtsdokumente dürfen wir nicht unterschreiten
Die in Österreich von der Verfassung abgesicherte Menschenrechtskonvention und die Genfer Flüchtlingskonvention müssen beim Thema Asyl Rahmenbedingungen bleiben, "die wir nicht unterschreiten dürfen". Diese Grundrechtsdokumente bilden nach Überzeugung der Migrationsforscherin Judith Kohlenberger "das Fundament, auf dem aufgebaut werden muss", um zu einem menschlicheren Umgang mit Flüchtlingen zu gelangen. "Es fehlt aber meines Erachtens der politische Wille dazu", sagte die Autorin des Buches "Das Flüchtlingsparadox" im Interview der Kooperationsredaktion österreichischer Kirchenzeitungen (Mittwoch). Seit der großen Flüchtlingsbewegung 2015/2016 sei auf europäischer Ebene eine "Dehumanisierung" zu beobachten - mit "Abschottung, Abschreckung und Auslagerung", kritisierte Kohlenberger.
Der aktuell betonte restriktive Asylkurs Österreichs mit Bekenntnissen zu "Grenzen dicht" stehe im Widerspruch dazu, dass laut heimischem Grundgesetz Asylanträge angenommen werden müssen. "Und realpolitisch gesehen ist der österreichische Arbeitsmarkt massiv von ausländischen Arbeitskräften abhängig", verwies die Expertin auf den sich verschärfenden demografischen Wandel. Selbst Ungarn habe das jetzt erkannt und werbe wegen des dort noch größeren Arbeitskräfteproblems "heimlich indonesische Arbeitskräfte an". Zugleich betreibe Ungarn "Pushbacks", also das Zurückdrängen von Migranten von den Grenzen, und schotte sich ab. Das ist laut Kohlenberger "absolut widersprüchlich".
Asylpolitik voller Widersprüche
Von Widersprüchen und Paradoxien sei die gesamte Asylpolitik gekennzeichnet, beklagte die an der WU Wien lehrende Fachfrau. In Österreich und den meisten europäischen Ländern gelte das "territoriale Asylrecht", wonach ein Asylwerbender bereits auf österreichischem Grund und Boden sein muss, um hier den Antrag stellen zu können. Das gehe aber nur, indem der oder die Betreffende die Grenzen nach Österreich ohne gültigen Aufenthaltstitel passiert, also "illegal", erklärte Kohlenberger. Das führe zur "Illegalisierung von Flucht".
Andere Paradoxien beträfen Erwartungshaltungen an geflüchtete Menschen: "Man gibt vor", bevorzugt ältere Menschen aufnehmen zu wollen, Frauen und Kinder, chronisch Kranke. Sobald die Menschen dann hier sind und ihren Asylstatus bekommen haben, werde jedoch "Integration durch Leistung" erwartet. Die Ärmsten und Schutzbedürftigsten seien jedoch nicht zwingend die fittesten, die sich möglichst rasch in den Arbeitsmarkt und ins Bildungssystem integrieren können, wies Kohlenberger hin.
EU sieht über Menschenrechte hinweg
Warum es zuletzt wieder zu mehr Ankünften von Flüchtlingen in Österreich kommt, erklärte die Migrationsforscherin im Interview der Kirchenzeitungen mit Abschreckungspolitik: Viele der einreisenden Syrer und Afghanen seien schon seit Monaten oder Jahren in Griechenland gewesen. Dort haben man die Unterbringungsstandards, die Grundversorgung komplett nach unten korrigiert "mit der Absicht, unattraktiv zu werden für Asylwerbende". Derart im Stich gelassene Menschen würden sich "in der absoluten Verzweiflung" auf eigene Faust über die Westbalkan-Route in Richtung westliche und nördliche EU auf den Weg machen, schilderte Kohlenberger. Das sei eine Konsequenz dessen, "dass die EU Griechenland für die Nicht-Einhaltung der Grundrechtsstandards nicht sanktioniert". Auch entlang der Westbalkan-Route verstießen viele Länder massiv gegen Menschen- und Grundrechte. "Das wird bis dato von der EU kaum geahndet."
Auf die Frage, wie sie das kontinuierliche Engagement der Kirche für geflüchtete Menschen sieht, antwortete Kohlenberger: "Betonen möchte ich, dass das Recht auf Asylantragsstellung kein Almosen ist, kein Akt der Barmherzigkeit, sondern es ist ein beschlossenes Recht, das eingefordert werden kann." Grundsätzlich sollte das gesamte Asylwesen in Europa in Richtung Humanität verändert werden. Bis diese Transformation des Systems geleistet sei, "ist es natürlich ganz wichtig, Symptome zu lindern und dadurch Menschlichkeit an den Tag zu legen". Das sei ein wertvoller Beitrag, "denn jedes einzelne Schicksal zählt". Kohlenberger hielt fest: "Auch wenn wir nicht allen helfen und wir nicht alle retten können, bedeutet das im Umkehrschluss nicht, dass wir niemanden retten können."
Judith Kohlenbergers Buch "Das Fluchtparadox" erschien 2022 im Verlag Kremayr & Scheriau; es ist für 24 Euro im Buchhandel erhältlich.
Quelle: kathpress