Theologin: Konzil belebte die Bibelwissenschaft enorm
Die Bedeutung des Zweiten Vatikanischen Konzils auch nach 60 Jahren hat die Salzburger Neutestamentlerin Prof. Marlis Gielen betont. In einem Interview in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung "Die Furche" sagte Gielen, man könne die positive Wirkung des Konzils auf die Bibelwissenschaft nicht hoch genug einschätzen. Entscheidend sei die Dogmatische Konstitution "Dei verbum". Hier werde kirchenamtlich festgestellt, dass es für ein richtiges Verständnis der biblischen Texte unverzichtbar sei, ihre Einbettung in die "Denk-, Sprech- und Erzählweisen" ihrer Autoren zu erforschen, so Gielen.
Die Kirche habe damit die Notwendigkeit der historisch-kritisch arbeitenden Bibelwissenschaft akzeptiert. Das habe 1965 einen echten Paradigmenwechsel bedeutet und führte zu einem ungeheuren Aufschwung der katholischen Bibelwissenschaft, "die seither viele neue, wichtige Erkenntnisse erarbeitet hat". Ohne das Konzil und seine Früchte hätte sie selbst "bestimmt nicht - wie so viele andere aus meiner Generation - Theologie studiert", sagte die Theologin.
Zudem habe das Konzil festgehalten, dass die Exegese die "wissenschaftliche Vorarbeit" leisten solle, sodass auf dieser Basis dann "das Urteil der Kirche reife". Gielen: "Die Exegese hat geliefert. Allerdings lässt die lehramtliche Rezeption der bibelwissenschaftlichen Ergebnisse doch sehr zu wünschen übrig. Hier ist noch viel Luft nach oben."
Kirche kann sich nicht von Welt abkoppeln
Für Papst Johannes XIII. sei das Ankommen der Kirche in der Gegenwart das Leitmotiv des Konzils gewesen. Ein Beispiel dafür sei die Erklärung "Nostra aetate". Vor allem mit der Absage an einen jahrhundertelang praktizierten, religiös verbrämten Antisemitismus und mit der Anerkennung des gemeinsamen geistlichen Erbes werde hier ein Paradigmenwechsel in der Verhältnisbestimmung zu den Juden vollzogen. Ein anderes Beispiel: "Mit der Pastoralkonstitution 'Gaudium et spes' öffnet sich die Kirche etwa auch für die moderne Welt mit ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen und technischen Errungenschaften." An der innerkirchlichen Basis könne zudem die Bedeutung der Liturgiekonstitution und die daraus erwachsende Liturgiereform kaum überschätzt werden, so Gielen: "Die Pfarrgemeinden erlebten einen neuen Frühling."
Die Kirche könne sich nicht von weltlichen Entwicklungen abkoppeln. "Wenn Themen gesellschaftlich relevant werden, dringen sie auch in die Kirche ein", betonte die Theologin: "Warum wird innerkirchlich zuletzt immer intensiver um die Gleichstellung von Frauen auf allen Ebenen inklusive der Weiheämter gerungen? Weil das Thema Gleichstellung eben auch viele Gesellschaften weltweit umtreibt." Auch die Säkularisierung sei ein gesellschaftliches Faktum. Die Kirche müsse sich damit konstruktiv auseinandersetzen.
Die deutsche Theologin Marlies Gielen ist seit 2000 Universitätsprofessorin für Neutestamentliche Bibelwissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Salzburg.
Ideal der kirchlichen Gemeinschaft hat Chancen
Ebenfalls in der aktuellen Ausgabe der "Furche" stellte der deutsche Theologe Prof. Wolfgang Beinert die Frage, ob das Konzil "Schnee von gestern" sei oder nicht doch eher "Quellgrund für morgen". Und er hielt fest, dass die Frage derzeit nicht zu beantworten sei. "Alles hängt davon ab, ob sich die Gemeinschaft der Glaubenden mutig und tapfer zum kommunionalen Kirchenverständnis durchzuringen vermag", so Beinert. Für ihn gilt: "Es ist keine Alternative geblieben." Das "hierarchologische Kirchenverständnis" habe "kläglich und auf der ganzen Linie versagt". Das Ideal der Gemeinschaft aber habe Chancen.
Letzteres sei im Gegensatz zur anderen Kirchenkonzeption auch einer Gesellschaft plausibel zu vermitteln, welche von den freilich nicht immer eingelösten Idealen der Menschenrechte, der Mitbestimmung und der Ebenbürtigkeit der Glieder bestimmt wird. Beinert: "Eine Kirche als communio hat die angeborene Fähigkeit, wesentlich, nachdrücklich und erfolgreich zu Frieden, Versöhnung, Gerechtigkeit und Freiheit in der Menschheit heute beizutragen - alles Größen, die überlebenswichtig für die Menschheit heute sind."
Beinert war von 1978 bis 1998 Professor für Dogmatik an der Universität Regensburg, wo bis 1977 Joseph Ratzinger lehrte, dessen Schüler Beinert war.
Quelle: kathpress