Theologe Beck: "Gute Religiosität" macht Menschen krisenfester
Den heute lebenden Menschen ging es weitgehend gut - und nun werde es aufgrund von Pandemie, Krieg und Klimaerwärmung "ungemütlicher". Eine "gute Religiosität" könnte in einer Situation, in der viele Angst um ihren bisherigen Wohlstand oder sogar um ihre Existenzgrundlagen haben, "resilienzsteigernd sein und den Menschen mehr innere Kraft geben", ist der Wiener Theologe und Ethiker Matthias Beck überzeugt. Jedoch sei zu beobachten, "dass uns vielfach das religiöse Fundament wegbricht". Die Vermittlung innerer Stärke ist - wie der Theologe in einem "Kurier"-Interview am Mittwoch erklärte - zu wenig gefördert worden. Ein großer Teil der Menschen sei orientierungslos. "Und diese innere Leere prallt zusammen mit den äußeren Unruhen", so Beck.
Der heuer an der Universität Wien emeritierte Moraltheologe und Medizinethiker relativierte das Ausmaß der aktuellen multiplen Krise: Katastrophen habe es in jedem Jahrhundert gegeben, verwies er auf die Pest oder zwei Weltkriege. Auch im heutigen Europa gehe es den meisten Menschen besser als vielen Generationen vorher: "Wir sind relativ reich, relativ gut gebildet, wir haben eine relativ gute Ethik, basierend auf Menschenwürde und -rechten." Zugleich räumte Beck ein, dass es momentan eine Gemengelage aus mehreren Krisen gebe, "die wir allesamt nicht mehr allein lösen können, weil wir so verflochten miteinander sind". Dazu komme, dass nicht zuletzt durch das Internet Hass oder zumindest Aufgeregtheit befördert würden.
Gedankenschärfe statt Systemwechsel
Beck äußerte Skepsis, in all dem einen Katalysator für einen propagierten "Systemwechsel" zu sehen bzw. diesen zu begrüßen: "Wenn man mit System das politische System meint, dann bin ich mit dem, was wir in Europa haben, recht zufrieden." Es sei geprägt von Freiheit, auch für unternehmerische Tätigkeit, zugleich von Armutsbekämpfung durch Arbeitslosengeld, Sozialversicherung und Krankenkassen. "Das ist im Prinzip ein christlicher Grundsatz, soziale Marktwirtschaft", so der Theologe.
Woran es allerdings fehle, sei gute, menschliche Bildung. "Wir erwerben skills, aber die Fähigkeit zur Reflexion geht verloren", auch differenzierter Diskurs werde verlernt. Beck verwies auf Parlamentsdebatten, in denen es "sehr viel persönlichen Angriff und zu wenig substanzielle Diskussion" gebe.
"Was wir tun können und müssen, ist, die Menschen mehr zum eigenständigen Denken zu führen", riet Beck. Die Rede vom Systemwandel habe etwas "Marxistisches" an sich - im Sinne von: Wir müssen die Strukturen ändern, dann ändert sich der Mensch. Das sehe er gerade andersherum, so der Theologe: "Der Mensch muss sich ändern, dann können sich schrittweise auch die Strukturen ändern."
"Nicht mit religiösen Formeln abspeisen"
Um dabei hilfreich zu sein, brauche die Kirche einen Paradigmenwechsel: "Man kann heute die Menschen nicht mehr mit religiösen Formeln abspeisen." Die Menschen müssten verstehen, dass die christliche Botschaft jedem einzelnen in seinem Leben helfen soll. Die Kirche müsse als ein "heiliges Mittel" im Dienst am Menschen fungieren und dabei unterstützen: bessere Entscheidungen zu treffen, einen weiteren Horizont zu haben, nach vorne zu schauen, Hoffnung über den Tod hinaus zu haben. "In der Kirche bekommen die Menschen vielfach zu einfache und tote Formeln vorgesetzt", bedauerte Beck. Priester müssten besser ausgebildet werden, Glaubensfragen tiefer zu durchdringen, Menschen mit guten Argumenten zur Erkenntnis zu führen.
Auch zur Erkenntnis über sich selbst, wie Beck hinzufügte: Wenn sich jemand nicht äußerlich für Religion interessiere wie für Mathematik, sondern für sich selbst, "dann brechen die großen Fragen auf: nach Leid, nach Sinn, nach Beruf und Berufung". Und darauf habe das Christentum einige Antworten.
Wie andere große Systeme sei die Kirche in Gefahr, zu sehr mit sich selbst beschäftigt zu sein. Beck wörtlich: "Wir diskutieren in der Kirche zu 90 Prozent Strukturfragen und zehn Prozent Inhaltliches. Dabei müsste es umgekehrt sein."
Quelle: kathpress