Ukraine: "An der Front gibt es keinen Atheisten"
Versöhnung zwischen Ukrainern und Russen wird dereinst möglich sein, dafür braucht es aber klare Voraussetzungen. Das hat der Wiener Ostkirchen-Generalvikar Yuriy Kolasa in einem Beitrag auf der Website der Erzdiözese Wien betont. Die Kirchen in der Ukraine seien Zentren des Gebetes und der Begegnung, die Pfarren Anlaufstellen für humanitäre Hilfe. "Die Menschen suchen Gott", so Kolasa. Überall, wo es möglich ist, würden sich täglich Menschen treffen zum gemeinsamen Gebet um Frieden und natürlich für ihre Männer, Brüder und Freunde an der Front. Quer durch die Konfessionen habe sich der Rosenkranz als verbindendes Gebet verbreitet. Auch die Soldaten an der Front würden ihn um den Hals tragen. Kolasa zitiert eine Militärärztin: "An der Front gibt es keinen Atheisten."
Am 24. August feiert die Ukraine ihren Unabhängigkeitstag. Vor 31 Jahren wurde die frühere Sowjetrepublik zum souveränen Staat. Am selben Tag ist es zugleich sechs Monate her, dass Russland die Ukraine angegriffen hat. Die knapp 80.000 Flüchtlinge in Österreich sind vor allem Frauen und Kindern. Ihre Stimmung fasst Kolasa, der selbst aus Lemberg stammt, lapidar zusammen: Verzweiflung. Die noch vor dem Sommer verbreitete Hoffnung, dass im Herbst der Krieg zu Ende sei, habe sich zerschlagen. Die meisten Flüchtlinge würden sich nun auf einen längeren Aufenthalt in Österreich vorbereiten, schon allein wegen der schulpflichtigen Kinder. Gleichzeitig bedeute dies eine noch längere, schmerzhafte Trennung von den Ehemännern und Vätern, die in der Heimat zurückgeblieben sind, viele von ihnen an der Kriegsfront.
Auch ihn würden die fast täglich über die sozialen Netzwerke eintreffenden Meldungen von gefallenen Soldaten, sehr oft Söhne von Verwandten, Freunden und Bekannten, sehr bedrücken, so Kolasa.
Der Ostkirchen-Generalvikar zeigt sich überzeugt, dass eine Aufgabe der Kirche darin besteht, Möglichkeiten für eine künftige Versöhnung zwischen Ukrainern und Russen vorzubereiten. "Die Versöhnung zwischen Ukrainern und Russen wird kommen", so Kolasa: "Eines Tages müssen wir uns wieder in die Augen sehen." Versöhnung, betont er, sei aber kein einseitiger Akt. Im gegenwärtigen Konflikt gebe es einen klar definierbaren Aggressor und ein eindeutiges Opfer. Voraussetzung für die Versöhnung sei daher die Bereitschaft des Angreifers, seine Schuld einzugestehen. Ein Blick in die Geschichte zeige, dass das immer wieder geschehen ist. Zuletzt etwa nach dem Zerfall der Sowjetunion, als das 1989 gegründete unabhängige Institut "Memorial International" systematisch die Verbrechen des Stalinismus bearbeitet und damit aktiv Versöhnung- und Friedensarbeit betrieben hatte. Nicht zufällig sei das Projekt Ende 2021 vom russischen Präsidenten Wladimir Putin geschlossen worden.
Aus der Ukrainischen Griechisch-katholischen Kirche, der Kolasa angehört, kommen weitere konkrete Ideen zur Vorbereitung eines Aussöhnungsprozesses. Boris Gudziak, griechisch-katholischer Erzbischof von Philadelphia (USA) schlug auf der kürzlich im südpolnischen Przemyl tagenden Synode ein interdisziplinäres und konfessionsübergreifendes Symposium vor, das die Idee der "Russki Mir" ("russische Welt") analysieren und deren Grundlagen offenlegen soll, die ja den ideologischen Unterbau des aktuellen Krieges bildet. Ziel eines solchen Symposiums sei es, diese ideologische "Munition" auf wissenschaftlicher Ebene zu entschärfen und so einen Weg zu Dialog und Versöhnung zu bahnen.
Hoffnung auf Menschenwürde und Freiheit
Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk, Oberhaupt der Griechisch-katholischen Kirche der Ukraine mit Sitz in Kiew gibt täglich in den sozialen Medien Impulse, die konkret die Zukunft und den Wiederaufbau der Ukraine auf Grundlage der christlichen Gesellschaftsordnung zum Thema haben. Die Botschaft der Kirche, so sieht es Kolasa, sei Hoffnung: "Hoffnung auf Frieden, auf eine menschenwürdige Zukunft und einen wirtschaftlichen und moralischen Wiederaufbau des Landes".
Die europäische Idee, zu der sich das Land bekenne, bedeute für die Ukrainer Menschenwürde, Freiheit, Selbstbestimmung und Rechtsstaatlichkeit. All diese Grundrechte seien in der Sowjetzeit mit Füßen getreten worden und nun durch den Angriffskrieg Putins neuerlich in Gefahr, nicht nur für die Ukraine. Dass erstmals in diesem Jahrhundert ein Staat völkerrechtswidrig einen anderen souveränen Staat vernichten will, sei ein Präzedenzfall, den, so Kolasa, die freie Welt um ihrer eigenen Sicherheit willen nicht tatenlos hinnehmen dürfe.
Große Hoffnung setzen die Ukrainer, wenn auch mehrheitlich orthodox, in einen nahen Besuch von Papst Franziskus. Sie würden damit die konkrete Hoffnung auf ein Ende des Krieges verbinden. Kolasa gibt sich allerdings als Realist. Eine solche Visite erfordere eine überaus aufwendige diplomatische Vorbereitung auf vielen Ebenen. Wie weit diese bislang gediehen sind, könne er schwer abschätzen. Wenn es daher tatsächlich zu einem Besuch von Papst Franziskus in der Ukraine kommt, dann sei dies ein starkes Zeichen, dass der Friede tatsächlich nahe ist.
Quelle: kathpress