Naturkatastrophe im Ahrtal: "War das wirklich Gottes Wille?"
Verheerende Unwetter richteten genau vor einem Jahr große Zerstörungen in Deutschland (und im benachbarten Belgien) an, vor allem in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. 220 Menschen kamen dabei insgesamt ums Leben, 186 in Deutschland und 41 in Belgien. Besonders hart erwischte es das Ahrtal in Deutschland, wo 134 Menschen starben. Mehr als die Hälfe von ihnen, 69, kamen in Bad Neuenahr-Ahrweiler ums Leben, wo P. Jörg Meyrer seit fast 20 Jahren als katholischer Pfarrer wirkt. In der neuen Folge des Religionspodcast "Wer glaubt, wird selig", erinnert sich der deutsche Pfarrer an die dramatischen Ereignisse vom 14. und 15. Juli 2021.
Wenn er heute durch die Straßen von Bad Neuenahr-Ahrweiler gehe, sei die Zerstörung immer noch zu sehen, so Meyrer: "Man sieht immer noch, dass die Geschäfte nicht da sind und dass die Wohnungen im Parterre nicht bewohnbar sind. Von daher ist es immer noch ein Bild der Zerstörung." Es sei aber auch schon viel geschafft worden: "Deshalb gibt es immer beides in mir: Auf der einen Seite die Freude, dass schon so viel gemacht wurde; auf der anderen Seite die Sorge, dass noch so viel zu machen ist. Das wird noch lange dauern."
Die Verfahren für die staatliche Unterstützung seien höchst kompliziert, oft würden mehrere Gutachter benötigt, um die Höhe der nötigen finanziellen Mittel festzustellen. "Es dauert immer sehr lange, bis die Zuschüsse genehmigt sind und dann weiß man nicht, was genehmigt wird." Hinzu komme, dass es viel zu wenige Handwerker gebe und die Preise seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine explodiert seien. Der Krieg sei auch schuld daran, dass Baumaterial derzeit viel zu knapp sei. So kämen derzeit zum Beispiel keine Fliesen nach, weil der Ton aus der Ukraine kommt.
Sieben Meter Hochwasser
Meyrer erinnerte sich an den Tag vor der Katastrophe. "Wir wollten da eigentlich ein Wort zum Sonntag als Video im Garten eines Freundes aufnehmen. Das ging aber nicht, weil es den ganzen Tag geschüttet hat." Zu Hause angekommen, hörte er bereits die Durchsage der Feuerwehr, dass die Menschen sich und ihre Autos in Sicherheit bringen und nicht mehr in die Keller gehen sollen. "Ich bin dann zur Feuerwehr gegangen und habe meine Hilfe angeboten." Zu diesem Zeitpunkt waren die Brücken bereits gesperrt und für die Ahr wurde ein Hochwasserstand sieben Metern prognostiziert. "Die Ahr hat normalerweise einen Wasserstand von 50 Zentimetern. Wir haben nicht geglaubt, dass das so dramatische Ausmaße annimmt."
Später sei er noch zur Kirche gegangen und habe versucht, diese mit Sandsäcken zu sichern, was aber völlig nutzlos gewesen sei, da die Säcke weggespült wurden, obwohl die Kirche mehrere hundert Meter von der Ahr entfernt liegt. Er ging daher zurück zur Feuerwehr und half dort. "Das Feuerwehrhaus liegt direkt neben der Ahr, der Lärm des Wassers war unbeschreiblich." Als der Fluss über die Ufer trat, war innerhalb von Minuten alles überschwemmt.
Meyrer wurde gebeten, die Kirche zu öffnen, da man sich zur Evakuierung entschloss und die Menschen dort unterbringen wollte. "Ich habe mich durchgekämpft, da stand das Wasser schon hüfthoch beim Stadttor."
Die Geschichten, die ihm die Menschen von dieser Nacht erzählt haben, beschäftigen Meyrer noch heute. So erzählte er im Podcast von einer Nachbarin, die sich die ganze Nacht verzweifelt an eine Säule geklammert hat, um zu überleben. Viele erzählten ihm auch, wie sie - leider erfolglos -versucht hätten, ihre Nachbarn zu retten, indem sie ihnen Luftmatratzen oder Seile zum festhalten zuwarfen. "Da stehen Menschen in Rufweite und man kann nicht zu ihnen." An die Menschen, die die Nacht nicht überlebten, denkt Meyrer bis heute sehr oft: "Dieses Mitleiden schneidet immer noch sehr tief."
Als die Hilfe im Laufe des Tages ins Rollen kam, war auch Meyrer involviert. Er besorgte Kleidung, Brot und weitere Notwendigkeiten für die Menschen, im nahen Priesterseminar wurde gekocht. Am zweiten Tag nach der Katastrophe gründete Meyrer den "Arbeitskreis Kirche hilft". Dieser kümmerte sich um die Sammlung von Sachspenden und deren Verteilung. Dafür trommelte er alle Mitarbeiter zusammen, die von der Flut nicht betroffen waren. Mit dem Team aus sieben Personen wurden alle Hilfsangebote und -gesuche entgegengenommen und kanalisiert. Das erste Spendenzelt stand nach zwei Tagen. "Die Menschen konnten dort zuerst Lebensmittelspenden und danach auch alles andere abgeben."
Wichtig war auch die Notfallseelsorge: "Die Menschen mussten ihre schreckliche Geschichte erzählen und hatten keinen Ort mehr, wo sie hin konnten." Es sei daher zentral gewesen, sich zu den Menschen zu setzen und ihnen zuzuhören. Dabei hielten die Notfallseelsorger auch Rücksprache mit Psychologen, um die Betroffenen unterstützen zu können.
Beten in schweren Zeiten
Meyrer räumte ein, dass es ihm auch schwergefallen sei, im Vater Unser "Dein Wille geschehe" zu beten: "War das wirklich Gottes Wille? Kann ich sagen 'Dein Wille geschehe' bei der Beerdigung einer jungen Frau, die ihr Leben noch vor sich hatte?"
Beten in schwierigen Zeiten brauche neue Worte, einen "neuen Grund, auf dem ich gehe". Auf die Frage, warum Gott so etwas zulasse, habe er selbst keine Antwort. Er könne sich nur vorstellen, dass Gott in dieser Nacht mit jenen gekämpft hat, die um ihr Leben kämpfen mussten und "mit denen, die in dieser Nacht starben, ist er auch gestorben".
Die Frage nach dem Warum möchte er aber durch eine Frage nach dem Wozu ersetzen. Auch eine Katastrophe wie jene vor einem Jahr müsse "zu etwas gut" gewesen sein. Meyrer erwähnte ihn diesem Zusammenhang den Zusammenhalt, der sich in den Tagen und Wochen nach den Überschwemmungen zwischen den Menschen gebildet hat. "Das möchte ich gerne behalten."
Vor kurzem erschien Meyrers Buch "Zusammenhalten. Als Seelsorger im Ahrtal" im Bonifatius Verlag. Eigentlich habe er gar nicht vorgehabt, ein Buch zu schreiben, erzählte Meyrer. Seine Statements auf Facebook hätten aber eine breitere Öffentlichkeit interessiert, weshalb der Verlag auf ihn zugekommen sei. Das Ergebnis sei ein sehr persönliches Buch.
Der von der ökumenischen Radioagentur Studio Omega produzierte Religionspodcast "Wer glaubt, wird selig" ist auf der Website der katholischen Kirche in Österreich (www.katholisch.at), auf www.studio-omega.at, auf https://studio-omega-der-podcast.simplecast.com sowie auf iTunes, allen Smartphone-Apps für Podcasts und auf Spotify abrufbar.
Quelle: kathpress