Zulehner: Protest der Friedensbewegung "keinesfalls blauäugig"
Auch bei einem ethisch legitimen Verteidigungskrieg wie jenem von der ukrainisch geführten Staatsführung ist der Protest der Friedensbewegung, dass sich der Westen in eine Kriegsrhetorik hineinsteigert, "notwendig und hilfreich und keineswegs blauäugig". Diese Überzeugung vertrat der Wiener Pastoraltheologe und Werteforscher Paul Zulehner in einem Interview der "Salzburger Nachrichten" (Wochenendausgabe vom 14. Mai). Pazifisten würden daran erinnern, dass der Krieg unter heutigen Bedingungen "immer ein Angriff gegen die Menschlichkeit ist". Auch die biblische Tradition mit der Vision "Schwerter zu Pflugscharen" nähre den Pazifismus. "Die Bergpredigt gibt eine Richtung an, aber der Weg dahin ist brüchig", so der Theologe.
Der Spruch aus dem antiken Rom "Wenn du den Frieden willst, rüste für den Krieg" wird laut Zulehner berechtigterweise ersetzt durch die Forderung "Wenn du den Frieden willst, bereite Gerechtigkeit vor". Der langjährige Slogan der Friedensbewegung "Frieden schaffen ohne Waffen" sei absolut vordringlich. "Ob das auch zynisch werden kann angesichts des Leidens der angegriffenen Bevölkerung", stellt sich für den Theologen dabei als Frage. Auf den Einwand von Waffenlieferungsgegnern, zumal schwere Waffen würden den Krieg verlängern, räumte Zulehner ein: "Das ist gut sagen, wenn man in Sicherheit ist und nicht in einem Keller in Mariupol."
Die Kirche täte jedenfalls gut daran, sich in der Frage von Waffenlieferungen zurückzuhalten. Dass die deutschen Bischöfe solche an die Ukraine "abgesegnet" hätten - wie die "SN" festhielt -, hält Zulehner für unnötig. Das liege in der Verantwortung der Politik, die Bischöfe hätten sich weder für noch gegen Waffenlieferungen aussprechen sollen. "Die Kirche tut besser daran zu sagen, wir wissen, dass der Krieg heute immer weniger ein gerechter Krieg sein kann, also prüft eure Gründe mit aller nur denkbaren Gewissenhaftigkeit", riet der Theologe.
Akzentverschiebung unter Franziskus
Seiner Beobachtung nach hat sich in der Beurteilung kriegerischer Auseinandersetzungen innerhalb des kirchlichen Lehramts unter Franziskus eine Weiterentwicklung ergeben: Der Papst stehe auf dem Standpunkt, dass die strengen Kriterien für einen "gerechten Krieg" heute überhaupt nicht mehr zutreffen, weil die gewaltige Zerstörungskraft moderner Waffen einen Krieg grundsätzlich nicht mehr als gerecht erscheinen lassen könne. "Die Zerstörungen in der Ukraine sind der himmelschreiende Beweis", wies Zulehner hin. Daher dehne Franziskus die Ächtung des Atomkriegs, zu der sich die Kirche seit Jahrzehnten bekennt, de facto auf jeden Krieg aus.
Der "Katechismus der Katholischen Kirche" zähle die Kriterien detailliert auf, wann militärische Verteidigung legitim sei: klare Schäden durch den Angreifer, Ausschöpfung aller friedlichen Mittel, Aussicht der Verteidiger auf Erfolg "und die Verteidigung darf nicht größere Schäden anrichten als das zu beseitigende Übel", wie Zulehner zusammenfasste. Darüber hinaus gebe es moralische Spielregeln für den Konflikt selbst: Die Zivilbevölkerung müsse geschont werden, Soldaten und Kriegsgefangene seien menschlich zu behandeln und es dürfe nicht gegen das Völkerrecht verstoßen werden.
Kyrill ignoriert Leiden der Menschen
Der Wiener Theologe schloss sich erneut der vielstimmigen ökumenischen Kritik am Moskauer Patriarchen Kyrill an. Durch die Unabhängigkeitsbestrebungen der Ukraine habe die russisch-orthodoxe Kirche ihr Ursprungsgebiet verloren: "Kiew, wo die Taufe der Rus war." Das wäre laut Zulehner vergleichbar mit einem Katholizismus ohne Rom. Kyrills Hoffnung, dass russische Kirche mit einer nicht länger unabhängigen Ukraine ihr Kerngebiet als "kanonisches Territorium" zurückgewinnt, sei "aber eine Rechnung ohne die Leiden der Menschen". Die Prognose des Religionssoziologen: "Sobald die Wahrheit über diesen Krieg ans Licht kommt, wird die massive Selbstbeschädigung der russisch-orthodoxen Kirche sichtbar werden." Die Folge werde eine massive Entkirchlichung sein. "Eine freie russische Kirche in einem freien Russland wäre zweifellos besser als die alte zaristische Symphonie zwischen Kirche und Staat", befand Zulehner.
Quelle: kathpress