Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. wird 95
Seine Bezeichnung für die Geschichtsbücher ist längst gefunden. "Professor Papst" wird er genannt: weil seine Ansprachen vor der UNO, im Berliner Reichstag oder im britischen Parlament anspruchsvoll wie Vorlesungen waren - und weil er aus seiner Liebe zur akademischen Theologie nie einen Hehl gemacht hat. Doch zuletzt, vor allem in der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in der Erzdiözese München-Freising, hat das Image von Joseph Ratzinger, dem emeritierten Papst Benedikt XVI., auch Kratzer bekommen. Am 16. April wird er 95 Jahre alt.
Zu Beginn seiner Karriere war von einem "Panzerkardinal" oder einem "Wachhund Gottes" noch nichts zu hören. Der junge, schüchterne Priester aus Bayern füllte in Bonn die größten Hörsäle. Seine theologische Brillanz veranlasste den Kölner Kardinal Josef Frings, den gerade 35-Jährigen zu seinem Berater beim Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) zu machen.
Über viele Gespräche mit anderen Konzilsvätern nahm Ratzinger erheblichen Einfluss auf diese größte Kirchenversammlung des 20. Jahrhunderts. Unterdessen bekam er, wie Kollegen spöttelten, den Wanderpokal der theologischen Fakultäten. Bonn 1959, Münster 1962, Tübingen 1966, Regensburg 1969 wurden zur Wiederannäherung an seine Heimat Bayern.
Verteidigung der Tradition
Der Euphorie des Konzils folgte ein Aufbruch, aber auch eine Zeit der Verunsicherung. Hatte sich die Kirche zu sehr dem Zeitgeist angedient? Auch der verschreckte Ratzinger wandte sich nach der "Revolution der 68er" der Verteidigung der Tradition und der Volksfrömmigkeit seiner Jugend zu.
Der Episode vom Regensburger Vorlesungspult zum Erzbischof von München und Freising (1977-1982) folgte 1982 seine Bestimmung über Jahrzehnte: als Präfekt der römischen Glaubenskongregation. Vom Vatikan aus kämpfte Ratzinger fortan für Johannes Paul II. gegen modernistischen Relativismus und eine marxistisch orientierte Befreiungstheologie. Das theologische Gehirn des Wojtyla-Papstes erhielt Attribute wie "Großinquisitor" und "Panzerkardinal".
Päpstliche Theologie
Am Ende zeigte sich Ratzinger amtsmüde - doch Johannes Paul II. überredete ihn zu bleiben. So wurde, als der Gigant aus Polen 2005 starb, Ratzinger die neue Leitfigur als Papst. Er nannte sich Benedikt XVI. Viele sprachen von einem "Papst des Übergangs" - 78 Jahre alt und aus seinen Gedanken an das Klavier und den Ruhestandsschreibtisch im bayerischen Pentling gerissen.
Freimütig berichtete er, wie "das Fallbeil" auf ihn niedergegangen sei. Der Mensch Joseph Ratzinger schien bei Benedikt XVI. viel stärker durch als beim Glaubenswächter: Einfachheit, Bescheidenheit, Harmoniebedürfnis. Seine drei Enzykliken gehören zum Besten päpstlicher Theologie. Größtes Thema seiner Amtszeit war die Ökumene. Mit dem Patriarchen von Konstantinopel entwickelte sich echte Freundschaft.
Der eigentlich äußerlich uneitle Benedikt XVI. bereicherte die Optik des Papstes durch symbolische Zitate aus der Geschichte. Traditionelle Accessoires wie die Hermelinkappe ("Camauro") oder der rote Krempenhut ("Saturno") wurden als traditionalistische Mode-Gags missverstanden. Tatsächlich spiegelten sie 2.000 Jahre Tradition der Kirche.
Pannen und Skandale
2006 löste ein Detail eines hochintellektuellen Vortrags in Regensburg einen Sturm in der islamischen Welt aus - viel vatikanische Krisendiplomatie war gefragt. Ein weiteres zentrales Anliegen war dem deutschen Papst die Versöhnung von Kirche und Judentum. Seine Rede in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem 2009 kollidierte freilich mit seinen Zugeständnissen an die traditionalistischen Piusbrüder.
Die Piusbruderschaft steht für die vielleicht größte Panne des Ratzinger-Pontifikats. Der Anhänger katholischer Tradition wollte sich mit dem Bruch, den er selbst 1988 als Kurienkardinal mitverantwortet hatte, nicht abfinden. Als Papst suchte er die Aussöhnung. Doch zeitgleich wurde Peinliches enthüllt: Einer der Pius-Bischöfe hatte den Holocaust geleugnet.
Spaziergänger im Vatikan
Auch der "Vatileaks"-Skandal um heimlich kopierte vertrauliche Dokumente machte Benedikt XVI. das letzte Amtsjahr schwer. Es folgte jener Akt, der ihm einen Platz in den Geschichtsbüchern sichert. Der erste freiwillige Amtsverzicht eines Papstes seit 718 Jahren erfolgte nach intensiven inneren Erörterungen - und war theologischer Befreiungsschlag und Sprengsatz zugleich.
Benedikt XVI. wurde der Spaziergänger im Vatikan - der aber nicht so still blieb, wie er es gelobt hatte. Kritiker werteten seine Einlassungen, unter anderem seine "Letzten Gespräche" mit Peter Seewald (2016), als Versuche, die Hoheit über sein eigenes Bild für die Geschichte zurückzugewinnen. Bestrebungen konservativer Kurienkreise, den früheren Papst für eigene Zwecke zu instrumentalisieren und ihn gegen den Reformkurs von Franziskus auszuspielen, konnte sich Ratzinger nicht erfolgreich erwehren.
Münchner Gutachten
Wie sehr ihn die Auseinandersetzungen um das Münchner Missbrauchsgutachten seit Jahresbeginn mitgenommen haben, ist schwer zu sagen. Einerseits heißt es, der Emeritus sei mit sich im Reinen. Andererseits wird es einem "Mitarbeiter der Wahrheit", so sein Bischofsspruch, kaum egal gewesen sein, dass man ihm jetzt für seine Amtszeit als Erzbischof in Bayern "Lüge" und Fehler im Umgang mit sexuellem Missbrauch vorwarf.
Benedikts ausführliche Korrektur und persönliche Stellungnahme mündete dann noch in den Vorwurf der Ich-Bezogenheit statt Empathie mit den Opfern. Auch wenn ihm viele Unterstützer beisprangen, die sein Lebenswerk in Frage gestellt sahen: Seine Kritiker wird der "Professor Papst" kaum mehr überzeugen können.
Körperlich schwach, geistig klar
In seiner Stellungnahme zum Missbrauchsgutachten schrieb Benedikt XVI., bald werde er vor "den ewigen Richter" treten. Tatsächlich sei der Emeritus körperlich sehr schwach, so sein Privatsekretär Erzbischof Georg Gänswein; geistig aber nach wie vor klar und bei "typisch bayerischem Humor".
Benedikt XVI. sieht schmaler und blasser aus als noch auf einem Foto vom November. Er kann nur noch flüstern, Schreiben ist kaum noch möglich; die Konzentration sei nach einer halben bis einer Stunde erschöpft. "Er ist wie eine Kerze, die langsam und friedlich abbrennt", so sagte Gänswein schon 2016.
Quelle: kathpress