Caritas-Projektleiterin in Kiew: "Wie ein schlimmer Traum"
Die Ukraine ist vom am Donnerstag gestarteten Angriff Russlands völlig überrascht worden, denn weder die Politik noch die Bevölkerung haben damit gerechnet: Das hat die Projektleiterin der römisch-katholischen Caritas-Spes Ukraine, Olena Noah, am Donnerstagnachmittag in einem Telefonat mit der Nachrichtenagentur Kathpress geschildert. In Kiew seien viele Menschen in Panik, versuchten sich mit Lebensmitteln einzudecken oder die Stadt zu verlassen. "Niemand hat mit Krieg gerechnet, da wir bis zuletzt hofften, es wäre nur ein Spiel mit Drohgebärden. Nun ist alles wie ein schlimmer Traum, aus dem man endlich erwachen will", so die Caritas-Sprecherin.
Auch am Donnerstagnachmittag hätten in Kiew die Sirenen geheult und es gab Luftangriffe auf militärische Objekte. Die Leute würden in U-Bahn-Stationen, Luftschutzkellern und Kirchen in Deckung gehen. "Die U-Bahn fährt noch und ist heute für alle kostenlos", berichtete Noah. Soldaten bewachten die Brücken, welche die beiden Ufer des durch die Hauptstadt führenden Flusses Dnepr miteinander verbinden, manche von ihnen seien aus Sicherheitsgründen gesperrt. Alle zivile Flüge seien gestrichen, doch wolle im Moment jeder aus der Stadt gelangen. Deshalb gebe es an der Ausfahrt in Richtung Westen derzeit einen 100 Kilometer langen Stau. "Die Menschen stehen in ihren Autos schon vier, fünf Stunden ohne Weiterkommen", berichtete Noah.
Davon abgesehen, sei es am Donnerstag in der ukrainischen Hauptstadt außergewöhnlich ruhig gewesen, besonders an den sonst belebten Plätzen. Anders die Situation in den Supermärkten. "Jeder will noch Lebensmittel kaufen. Per Lautsprecher wird aufgerufen, nicht in Panik auszubrechen, doch das ist vergebens. Die Menschen empfinden großen Stress", berichtete Noah. Derzeit seien alle Waren verfügbar, man rechne jedoch allgemein damit, dass sich die Grundversorgung in den nächsten Tagen verschlechtern wird. Dramatische Szenen gebe es auch vor den Banken, wo Menschen in langen Schlangen stehen, um Bargeld zu beheben, sowie an den Tankstellen, wo die Nachfrage ebenfalls enorm sei.
Besonders die am meisten benachteiligten Gruppen stünden im Fokus der Caritas-Spes, darunter die alleinstehenden Älteren sowie die Waisenkinder, welche in den sogenannten "Familienhäusern" der Hilfsorganisation untergebracht sind. Dabei handelt es sich um im ganzen Land verstreute, mit Unterstützung auch aus Österreich und Deutschland errichtete sozialpädagogische Einrichtungen, in denen Kinder in von Ordensfrauen geleiteten Gruppen leben. "Für diese Kinder sind wir direkt verantwortlich", erklärte Noah im Kathpress-Gespräch. Vor einer Woche noch hatten die Leiter der landesweiten Waisenhäuser-Einrichtungen eine Evakuierung nicht als notwendig erachtet. "Auch wir wurden von den Ereignissen überrascht", so die Caritas-Sprecherin.
Derzeit wird der Transport der Kinder in die Westukraine organisiert, wo die Caritas-Spes ein großes Ferienzentrum führt. Eine 50-köpfige Kindergruppe aus der weit im Osten gelegenen Stadt Mariupol habe hier bereits den Anfang gemacht. Da am Zielort in den Karpaten für insgesamt 700 Kinder Platz ist, werde man auch Kinder aus staatlichen Waisenhäusern aufnehmen, kündigte Noah an. Zur Versorgung kaufe die Caritas derzeit ebenfalls Lebensmittel und Decken, wofür man auf Spendengelder angewiesen sei.
Dass Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj am Donnerstag dazu aufgerufen hat, die Ukraine "in vollem Gang" gegen den russischen Angriff zu verteidigen, sei von großen Teilen der Bevölkerung sehr positiv aufgenommen worden, berichtete Noah. Viele hätten diesen Schritt nach der abwartenden Haltung der vergangenen Tage sehnlichst erwartet. Auch wenn es am ersten Tag neben den Berichten von den russischen Einschlägen auch jene vom Abschuss russischer Flugzeuge und eines Helikopters gab, sei es fraglich, was die Ukraine entgegensetzen könne. "Alle hoffen, dass der Krieg rasch wieder aufhört - auch wenn die nächsten Tage sicher noch schlimm werden", so die Caritas-Sprecherin.
Quelle: kathpress