Zulehner: Vorrang für Wohl der Institution nicht mehr akzeptabel
Es ist heute nicht mehr akzeptabel, das Wohl der Institution vor das Wohl missbrauchter Betroffener zu stellen. Das hat der Wiener Pastoraltheologe Paul Zulehner in der "Kleinen Zeitung" (Sonntag) zum Missbrauchsgutachten betont, das den damaligen Münchner Erzbischof Joseph Ratzinger und andere Kirchenverantwortliche für ihren Umgang mit Missbrauchstätern schwer belastet. "Der moralische Fall der Kirche ist tief", die Empörung groß, leitete Zulehner seinen Kommentar mit dem Titel "Alle Kinder sind schützenswert!" ein. Aber nicht nur den Kirchen, auch Sportvereinen oder Ballettschulen werde heute zurecht Vertuschung vorgeworfen, und das "bis weit herauf in unsere Zeit".
Zugrunde sei dem die irrige Annahme - auch beim späteren Papst Benedikt XVI. - gelegen, dass Missbrauchsneigung heilbar sei, schrieb der Theologe. Die heute als untauglich erkannte Strategie lautete: "Straftäter müssten in der Beichte bekennen und sich bessern, notfalls mit Hilfe eines zugeteilten Therapeuten. Dann könnten sie an eine andere Dienststelle versetzt werden." Die betroffenen Kinder seien dabei in keiner Weise im Blick gewesen.
Benedikt XVI. habe sich durch das Abstreiten jeder Involvierung in seiner Münchner Zeit "bedauerlicherweise in eine missliche Lage manövriert", befand Zulehner. Der 95-jährige emeritierte Papst sollte die Größe haben - und "er wäre es den Betroffenen, aber auch dem Kirchenvolk schuldig" - öffentlich zu erklären: "Meine früheren Annahmen über den Missbrauch haben sich als Irrtum herausgestellt. Deshalb entschuldige ich mich für die Versetzungen, die in meiner Amtszeit passiert sind und die unsägliches Leid verursacht haben. Auch werde ich alles Erdenkliche tun, dass den Betroffenen nicht nur in Worten, sondern auch mit Entschädigungen Gerechtigkeit widerfährt."
Wegschauen auch in den Familien
Der vom heutigen Münchner Erzbischof Reinhard Marx beauftragte 1900-Seiten-Bericht der Kanzlei Westpfahl-Spilker-Wastl zeigt nach den Worten Zulehners "eine zu langsam lernende Kirche, aber auch eine verwundete Gesellschaft". Ihn stimme nachdenklich, "dass in derselben Zeit, in der Priester versetzt wurden, beispielsweise die Niederösterreichische Landesregierung einen überführten Täter aus einem Gymnasium im Süden Wiens in eine andere Schule versetzt hat". Kein Einzelfall, wie der Theologe feststellte.
Und unbemerkt geschehe dieser "Institutionenschutz" in einem viel zu sehr übersehenen Bereich: dem innerhäuslichen. Viele Ehefrauen hätten geschwiegen "und schweigen auch heute noch, weil sie um den Bestand der Institution Familie fürchten". Das erklärt laut Zulehner auch, warum die größte "Missbrauchsgrauzone" bis heute die privaten familialen Lebenswelten sind. "Auch jedes in einer Familie oder deren Umkreis missbrauchte Kind schreit, um es biblisch zu sagen, 'zum Himmel'", so Zulehner wörtlich.
Es reicht nicht aus, zurückzuschauen
Es reiche nicht aus, zurückzuschauen, forderte er Prävention ein. Um aller Kinder willen gelte es, Missbrauch mit wirksamen Maßnahmen möglichst unwahrscheinlich zu machen. Dazu sei es nötig, die Ursachen zu kennen und zu beheben. Zulehner zog in Zweifel, ob der Zölibat, die kirchliche Sexualmoral oder ein überhöhtes Priesterbild die strukturellen Voraussetzungen für Übergriffe schaffen: "Eine Person, die es zum Missbrauch treibt, verfehlt sich nicht nur als Eheloser, sondern auch als Familienvater." Zugrunde liege eine erotisch-sexuelle Unreife, die sich bereits in der frühen Entwicklung eines Heranwachsenden ausbilde - in den Familien. Von dort aus gelangten potenzielle Täter "in Sportvereine oder klopfen an ein Priesterseminar".
Die Kirche müsse ihre früher "fahrlässig übersehene" Verantwortung wahrnehmen, indem sie auf die Auswahl der Kandidaten achtet, entsprechende Screenings vorsieht, die "Männergesellschaft Priesterseminar" hinterfragt, entsprechende Aus- und Fortbildung jenen abfordert, die mit Kindern arbeiten, riet Zulehner. Alle diese Maßnahmen würden vermutlich nicht verhindern, dass es auch künftig Missbrauch in kirchlichen Handlungsfeldern gibt. "Aber es könnte weit seltener geschehen. Und für diesen kleinen Rest gäbe es Beratungsstellen für Betroffene und Ombudsstellen, die bei einem Verdacht umgehend handeln."
Zum Fluch statt zum Segen geworden
In der ORF-Sendung "Orientierung" am Sonntag bezeichnete Zulehner Missbrauchsfälle in der Kirche als "doppelten Verrat": Zum einen am Evangelium, demzufolge Jesus zu seinen Jüngern sagte "Lasst die Kinder zu mir kommen" und diese segnete. Statt dass die Kirche nach Jesu Vorbild zum Segen wird, sei sie für viele Heranwachsende "zu einem sehr leidvollen Fluch geworden". Der zweite Verrat sei jener der Kirche an ihrem Auftrag in der Welt, wo Kinder als Soldaten, Arbeitskräfte oder Sexualobjekte ausgebeutet werden, wie Zulehner sagte. Die Kirche müsse sich schützend vor diese Kinder stellen, Missbrauch in den eigenen Reihen sei ein Widerspruch dazu.
Papst Franziskus habe sich dieses Themas jetzt "erstmals mit aller Entschiedenheit" angenommen. Er sei sehr klar in der Position, "aber wir sind noch nicht weit genug in der Prävention", räumte der Theologe ein.
Quelle: kathpress