Missbrauch: Bischöfe und "Klasnic-Kommission" sorgten für klare Regeln
Die Diskussion um den Umgang mit Missbrauchsfällen im kirchlichen Umfeld hat mit der Veröffentlichung eines von der Erzdiözese München selbst in Auftrag gegebene Gutachtens einen neuen Höhepunkt erfahren. Die Missbrauchsthematik ist für die Katholische Kirche noch lange nicht "durch". Das betonen kirchliche Experten wie der Jesuit Hans Zollner immer wieder. Er leitet das Kinderschutzzentrum an der Gregoriana in Rom, ist Mitglied der vatikanischen Missbrauchskommission und weltweit bei Bischöfen und Ordensoberen in Sachen Missbrauchsbekämpfung im Einsatz. Der Kirche in Österreich attestieren Zollner wie auch der Theologe Paul Zulehner mittlerweile ein sehr gutes Zeugnis. Ausschlaggebend dafür sind grundlegende Weichenstellungen, die 2010 auf Ebene der Bischofskonferenz erfolgt sind.
Dass die österreichische Kirche in den Fragen der Prävention und der Bearbeitung von Missbrauchsfällen laut Zulehner "wahrscheinlich der Weltkirche sogar ein paar Jahrzehnte voraus ist", liegt auch an der "Causa Groer". Obwohl die Missbrauchsvorwürfe gegen den 2003 verstorbenen früheren Wiener Erzbischof und Kardinal - auch durch sein Schweigen dazu - nie restlos aufgeklärt werden konnten, führten sie 1995 zu seinem Rücktritt. Eine der ersten Maßnahmen seines Nachfolgers in Wien, Christoph Schönborn, war die Errichtung einer kirchlichen Ombudsstelle in der Erzdiözese Wien. Diesem Vorbild folgten über die Jahre immer mehr Diözesen.
2010 - in Folge einer Enthüllungswelle, die der Jesuit Klaus Mertes in Deutschland in Gang setze und bald auch Österreich erfasste - beschloss die österreichische Kirchenführung ein umfassendes Maßnahmenpaket. Es gilt im Großen und Ganzen bis heute, wird laufend evaluiert bzw. angepasst und hat die heimische Kirche nach einer sehr schmerzlichen Phase bis jetzt gut durch die Krise gebracht.
Als erste Maßnahme zum Schutz der Opfer wurden 2010 kirchliche Ombudsstellen in allen Diözesen nach einem einheitlichen Muster eingerichtet. Bei einem Bußgottesdienst im Wiener Stephansdom in der Karwoche wurde ein vielbeachtetes Schuldbekenntnis abgelegt. Die Bischofskonferenz beschloss im März 2010, dass die bisherigen unterschiedlichen diözesanen Regeln landesweit vereinheitlicht werden sollen; auch die Ordensgemeinschaften wurden einbezogen.
"Klasnic-Kommission"
Begleitet war der Skandal von der größten Austrittswelle seit Ende der NS-Zeit; allein 2010 verließen 86.000 Katholiken die Kirche. Auch das Ausmaß der Meldungen von Betroffenen übertraf alle Befürchtungen. Deshalb bat Kardinal Christoph Schönborn als Vorsitzender der Bischofskonferenz im April 2010 die frühere Landeshauptfrau Waltraud Klasnic, eine unabhängige Opferschutzanwaltschaft einzurichten. In den ersten drei Monaten dieser "Klasnic-Kommission" (offiziell: UOK) gingen fast 1.000 Meldungen ein.
Die Kommission entscheidet nach einem selbst beschlossenen Reglement über die Zahlung einer Finanzhilfe - je nach Schwere der Vorfälle in vier Kategorien: 5.000, 15.000, 25.000 und in besonders schweren Fällen auch über 25.000 Euro. Gegebenenfalls werden zudem Therapiestunden finanziert.
Von Beginn an wurde auf die Bezeichnung "Entschädigung" verzichtet, da es praktisch unmöglich sei, erlittenes Unrecht zu quantifizieren. Das gilt insbesondere, da das Verfahren auf Glaubhaftmachung und nicht auf Beweisführung ausgerichtet ist, auch um die Betroffenen nicht erneut zu traumatisieren.
Zudem wurde eine kirchliche Stiftung Opferschutz gegründet. Ihr Auftrag ist es, die Empfehlungen der UOK umzusetzen. Das Kuratorium bilden die Vorsitzenden der nationalen Ordensoberenkonferenzen sowie ein Bischof. Auch der Vorstand ist paritätisch mit Vertretern von Orden und Diözesen besetzt.
Mit Stand von 31. Dezember 2021 hat die Klasnic-Kommission seit 2010 2.642 Fälle zugunsten von Betroffenen entschieden. Bei 29 Prozent aller Vorfälle handelte es sich um sexuellen Missbrauch. Bei allen anderen Vorfällen ging es um Formen von körperlicher bzw. psychischer Gewalt. 86 Fälle sind derzeit noch in Bearbeitung, in 289 Fällen wurden weder finanzielle Hilfe noch Therapie zuerkannt. Die Kirche hat alle Entscheidungen der Kommission akzeptiert und umgesetzt. Den Betroffenen wurden bisher in Summe 33,6 Mio. Euro zuerkannt, davon 26,6 Mio. Euro als Finanzhilfen und 7 Mio. Euro für Therapien. Die meisten Vorfälle sind rechtlich verjährt und haben sich hauptsächlich in den 1960er- und 1970er-Jahren ereignet. Die Verjährungsfristen spielen aber für die kirchliche Aufarbeitung bzw. die Hilfszahlungen keine Rolle.
Österreichweite Rahmenordnung
Eine kirchliche Rahmenordnung vom Juni 2010 stellt sicher, dass heute alle Diözesen und Ordensgemeinschaften sowie alle haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auf die gleichen Maßnahmen und eine einheitliche Terminologie verpflichtet sind. Die Rahmenordnung wurde mehrfach überarbeitet, vom Vatikan approbiert und ist in ihrer dritten Fassung seit 1. September 2021 in Kraft.
Ziel der kirchlichen Maßnahmen in Österreich ist, erlittenes Unrecht so weit wie möglich anzuerkennen und Konsequenzen für die Täter festzulegen. Missbrauch und Gewalt beziehungsweise deren Duldung durch Wegschauen soll mittels breiter Präventionsmaßnahmen verhindert werden.
Der Ablauf sieht ein vierstufiges Verfahren vor: Betroffene wenden sich an eine Ombudsstelle. Die Diözesankommission prüft die Vorwürfe, holt Stellungnahmen der Beschuldigten und der Institutionen ein und schlägt Maßnahmen vor. Die Unabhängige Opferschutzkommission entscheidet über Finanzhilfe und Therapie. Die Stiftung Opferschutz bindet sich an die Entscheidung der UOK und setzt diese um.
Bei begründetem Verdacht wird der Beschuldigte bis zur endgültigen Klärung dienstfrei gestellt. Erhärtet sich ein Verdacht, empfiehlt die Ombudsstelle dem Betroffenen, Anzeige zu erstatten. Besteht zudem die Gefahr, dass durch den Beschuldigten nach wie vor Personen zu Schaden kommen könnten, ist deren Schutz vorrangig. Dann wird auf Initiative der Kirchenleitung Anzeige erstattet. Zudem wird der Beschuldigte vom kirchlichen Leitungsverantwortlichen zur Selbstanzeige aufgefordert. Die Vorgehensweise ermöglicht, dass Betroffene - auch bei Verjährung - unbürokratisch Hilfe erhalten können, ohne den Rechtsweg beschreiten zu müssen, der ihnen aber weiter offensteht.
Unter dem Leitwort "Hinsehen statt wegschauen" soll fundiertes Wissen über Gewalt und Missbrauch und die Gefährdungspotenziale im kirchlichen Bereich Grundlage der Präventionsarbeit sein. Möglichst viele Mitarbeiter sollen ihre Verantwortung wahrnehmen, durch Sensibilisierung für die Themen verantwortungsvoller Umgang mit Nähe und Distanz, mit Macht, Gewalt und sexuellem Missbrauch. Gefordert sind eine Null-Toleranz-Haltung und ein konsequenter, professioneller Umgang mit Verdachtsfällen. Dazu liegen konkrete Checklisten und Verhaltensregeln vor.
(Infos: www.ombudsstellen.at)
Quelle: kathpress